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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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man so alt werden wie diese Frau und noch immer glauben, dass alles etwas zu bedeuten hatte? Sie war offenbar einer jener Menschen, die unverdrossen weitermachten und entschlossen waren, alles zu glauben, was ihnen angesichts widriger Umstände Trost spendete. Und vielleicht war das gar nicht so dumm. Zynismus war deshalb so attraktiv, weil man damit so oft recht behielt. Als wäre recht zu haben der direkte Weg zum Glück. Vielleicht glaubte ihr Begleiter, das Schild habe nichts zu bedeuten, weil ihn das der Mühe enthob, es zu entschlüsseln, und ihn so vor einem Versagen seines Intellekts und seiner Fantasie bewahrte. Da war es doch leichter, sich an Greifbares zu halten – dann war man wenigstens kein Trottel.
    »Ist das Steak so gut, wie es aussieht?«, fragte der Mann, als er von der Toilette zurückkehrte. Als Griffin das bestätigte, musterte er ihn prüfend, als versuchte er zu entscheiden, ob man Griffins Urteilsvermögen trauen könne. Offenbar konnte man, denn als der Barkeeper den Maker’s vor ihn stellte, sagte er zu ihm: »Ich glaube, wir nehmen zwei von den Steaks da.«
    »Wir essen hier?«, sagte die Frau. Es war deutlich, dass sie sich nicht so zurechtgemacht hatte, um am Bartresen zu essen.
    Der Mann drehte sich auf dem Barhocker, sodass er das Restaurant übersehen konnte. Es wurde auch an der Bar serviert, aber im angrenzenden Speisesaal spielte ein Klavierspieler Evergreens, und das entsprach offensichtlich mehr dem Ambiente, das der Frau vorschwebte. »Ist doch nicht so schlecht.«
    »Das meine ich nicht.«
    »Oder willst du lieber eine halbe Stunde warten, damit du da essen kannst?« Er wies auf den nächststehenden Tisch, wo zwei ältere Herrschaften von ihrem Fisch aufsahen und verwundert feststellten, dass ein dicker Fremder mit dicht behaarter Brust sie als schlechtes Beispiel auserkoren hatte und seinen Zeigefinger auf sie richtete.
    »Könnten wir uns wenigstens die Speisekarte ansehen?«, sagte die Frau und starrte gekränkt auf ihren Cosmo.
    Er beugte sich zurück, sodass er einen ungehinderten Blick auf Griffins Teller hatte. »Wieso? Sieht das für dich nicht gut genug aus?«
    »Doch«, sagte sie, ohne hinzusehen.
    »Zwei Speisekarten«, sagte er zu dem Barkeeper. »Wir wollen ja nichts übereilen.«
    Als Griffin in den Spiegel hinter der Bar sah, wandte der junge Asiate, den er zuvor bemerkt hatte, den Blick ab. Hatte auch er gehört, was die beiden gesagt hatten?
    Griffin aß rasch zu Ende und bezahlte. Er hoffte, sich davonschleichen zu können, bevor die Frau ihm sagte, nein, er dürfe nicht gehen, noch nicht, nicht bevor sie herausgefunden hätten, was auf dem Schild stand. Und er hatte Glück. In dem Augenblick, als er sich von seinem Hocker gleiten ließ, brachte der Barkeeper zwei große blutige Steaks. Griffin ermahnte sich, die Frau nicht anzusehen, tat es aber trotzdem – nur ganz kurz, aber lange genug um zu bemerken, dass sie still weinte.
    Draußen hatte sich der Himmel bewölkt, er war hässlich und hing tief, und als Griffin die Wagentür aufschloss, traf ihn ein dicker Regentropfen auf die Stirn. Als er das Dach des Cabrios zuklappte, prasselte kalter Regen auf die Kühlerhaube. Er drehte den Zündschlüssel, stellte den Motor aber gleich darauf wieder ab und dachte an die Frau an der Bar und an Joy, an einen Morgen vor Jahren, als er sie in der Dusche überrascht hatte. Er war zum College gefahren und hatte den Wagen auf dem Dozentenparkplatz abgestellt, als ihm eingefallen war, dass er einen Stoß benoteter Arbeiten zu Hause vergessen hatte. Er hatte sie bis tief in die Nacht korrigiert, weil er dummerweise versprochen hatte, sie heute zurückzugeben. Zu Hause hörte er in der Küche, dass im oberen Badezimmer die Dusche lief. Er nahm die Arbeiten und wollte nur kurz den Kopf hineinstrecken und sich ein zweites Mal verabschieden, für den Fall, dass sie ihn hatte kommen hören.
    Sie stand in der Duschkabine, die Stirn an die Wand unter dem Duschkopf gelegt, sodass der größte Teil des Wassers gegen die Glastür in ihrem Rücken spritzte. Obwohl ihre Schultern heftig zuckten, merkte er anfangs nicht, dass sie weinte. Es erschien ihm ganz und gar unmöglich. Vor nicht einmal fünfzehn Minuten, am Frühstückstisch, war alles gut gewesen. Was konnte in der Zwischenzeit geschehen sein, das einen solchen Kummer erregt hatte? Wenn irgendetwas mit Laura gewesen wäre, hätte Joy unentwegt versucht, ihn zu erreichen – das konnte es also nicht sein. Das Leben, das sie

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