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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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endlich verlassen hatten, waren sie in zwei Wagen gefahren, in denen sie all die Sachen transportierten, die sie den Spediteuren nicht anvertrauen wollten. Damals gab es natürlich noch keine Handys, aber nach dem ersten Tag hatten sie es perfekt drauf: Jeder wusste intuitiv, wann der andere tanken, etwas essen oder auf die Toilette gehen musste. Sie versuchten, dicht zusammenzubleiben, und wer vorn fuhr, behielt den Rückspiegel im Auge. Wenn der andere Wagen nicht mehr zu sehen war, fuhr man langsamer oder hielt auf dem Seitenstreifen an, bis er aufgeholt hatte. Erinnerte Joy sich daran? Hatte sie gesehen, dass er angehalten hatte? Wenn ja, dann würde sie auf der anderen Seite der Brücke auf ihn warten. Oder, was wahrscheinlicher war, ein Stück dahinter. Inzwischen, dessen war er sich sicher, hatte sie in den Spiegel gesehen und bemerkt, dass er nicht mehr da war.
    Er schaltete das Handy aus und steckte es wieder in den Getränkehalter. Er wollte nicht mit ihr telefonieren. Sie hatten ohnehin schon genug geredet. Er wollte sehen, dass sie auf dem Seitenstreifen stand und besorgt auf ihn wartete. Wenn sie angehalten hatte, würde er wissen, dass das, was zwischen ihnen stand – was immer es war –, in Ordnung gebracht werden konnte.
    Vorsichtig reihte er sich in den Verkehr ein und fuhr über die Brücke, vorbei an dem Schild – VERZWEIFELT? –, das eine Gruppe namens »Die Samariter« dort aufgestellt hatte, um Selbstmörder von ihrem Vorhaben abzuhalten. Vom Scheitelpunkt der Brücke konnte er den beständigen Strom des Verkehrs auf der Schnellstraße etwa eineinhalb Kilometer weit übersehen, doch auf dem Seitenstreifen stand kein einziger Wagen. Eine halbe Stunde später schaltete er das Handy wieder ein, in der Hoffnung, ein entgangenes Gespräch angezeigt zu bekommen. Es hatte niemand angerufen.

9
    PROBE
    Die zerklüftete Küste von Maine war beeindruckend, das musste Griffin zugeben. Das Licht war so rein, dass es beinahe schmerzte. Unwillkürlich fragte er sich, was wohl geschehen wäre, wenn seine Eltern sich nicht in das Cape, sondern in diesen Teil der Welt verliebt hätten. Auf jeden Fall hätten sie sich hier ein Haus leisten können, was eine naheliegende Frage aufwarf: Hätten sie wirklich etwas gewollt, das sie sich leisten konnten? Immerhin beruhte der Reiz des Capes zum großen Teil auf seiner schimmernden Ungreifbarkeit, auf der magischen Art, wie es sich ihnen Jahr für Jahr entzog – es war der Stoff, aus dem man Träume machte. Die Küste von Maine dagegen erschien nicht nur wirklich, sondern geradezu gezeichnet von Wirklichkeit. Während Cape Cod einem irgendwie den Eindruck vermittelte, dass der Juli das ganze Jahr währte, erinnerte Maine einen selbst im blühenden Frühsommer an seine langen harten Winter, an Schneewehen, die Bretter faulen und Spaliere splittern ließen, an unablässige Winde, die in den Giebeln heulten, Farben abschrubbten und Dachrinnen mit einer weißen Salzschicht überzogen. Selbst die Menschen sahen irgendwie geschrubbt aus – jedenfalls kam es Griffin so vor, als er über die Halbinsel zum Hedges fuhr, dem Hotel, in dem morgen Lauras Hochzeit stattfinden würde. Möchte ich nicht geschenkt haben , sagte seine Mutter und beantwortete damit seine unausgesprochene Frage.
    Seit ihrem Tod im vergangenen Winter war sie noch gesprächiger als zu Lebzeiten, stets bereit, Griffin an ihren Meinungen teilhaben zu lassen, insbesondere in seinen langen, schlaflosen Nächten, aber keineswegs nur dann. Auch die räumliche Nähe – sie befand sich im Kofferraum seines Mietwagens – machte sie redselig. Mit ein wenig Glück würde es damit aber bald vorbei sein. Er hatte vor, nach der Hochzeit zum Cape zu fahren und dort einen letzten Ruheplatz für seine Eltern zu finden. Er hatte viele Monate darüber nachdenken können, doch ihm war kein besserer Plan eingefallen als der, den sie letztes Jahr um diese Zeit vorgeschlagen hatte: die Asche seines Vaters auf der einen und die seiner Mutter auf der anderen Seite des Capes zu verstreuen. Vielleicht würde sie das zum Schweigen bringen. Das denkst du , schnaubte sie.
    Joys Familie und die meisten anderen Gäste wohnten im Hedges, damit sie nicht in Versuchung kamen, sich in den Wagen zu setzen, wenn sie bei der Feier zu viel getrunken hatten. Auch Griffin hatte man ein Zimmer angeboten, doch angesichts der Trennung und der Tatsache, dass er in Begleitung kommen würde, hatte er es für besser gehalten, irgendwo in der Nähe

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