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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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starb, wie sie gelebt hatte: nach dem akademischen Kalender. Er bezweifelte, dass sie ein weiteres Semester beginnen würde.
    Der Tag, an dem Laura unangekündigt kam, war besonders schwierig. Seine Mutter war in der Nacht mehrmals von Schwestern geweckt worden, die Temperatur und Blutdruck gemessen oder sich auf dem Korridor vor ihrem Zimmer lautstark unterhalten hatten. Daher war sie den ganzen Morgen gereizt. Sie beklagte sich, man habe ihr kein Morphium gegeben, dabei sagten sowohl die diensttuende Schwester als auch das Krankenblatt etwas anderes. Gegen Mittag fuhr Griffin zurück ins Motel, um zu duschen und etwas zu essen. Bei seiner Rückkehr sah er, dass seine Mutter Besuch hatte – den ersten, abgesehen von ihrem Sohn. Eine Frau saß, den Rücken zur Tür gekehrt, auf der Bettkante und hielt die Hand seiner Mutter. Joy, dachte er und spürte, wie angesichts dieser Möglichkeit ein Eiswall in seinem Herzen brach. Sie hatte im November in L.A. angerufen, um ihm zu sagen, sie müsse in der kommenden Woche nach Sacramento fliegen und könne die Reise auf dem Hin- oder Rückweg in Indiana unterbrechen, wenn er sie brauche. Er hätte nur zu gern darum gebeten, hörte sich aber sagen, nein, er habe alles im Griff. Als er sie fragte, ob in Kalifornien alles in Ordnung sei, sagte sie, ja, es sei nur eine Familienangelegenheit zu regeln. Womit sie ihm deutlich zu verstehen gab, dass es nicht mehr seine Familie war, und er musste zugeben, dass er sich das selbst zuzuschreiben hatte.
    Sein erster Gedanke war, dass sie dennoch gekommen war, aber natürlich konnte das nicht Joy sein. Seine Mutter hätte sich niemals von ihrer Schwiegertochter die Hand halten lassen. »Sieh mal, wer gekommen ist«, sagte sie. Erst als Laura sich umdrehte, erkannte Griffin sie. »Würdest du uns jetzt in unserem Glück allein lassen?«, sagte seine Mutter, als er und Laura einander umarmten. »Meine Enkelin hat eine weite Reise gemacht, um mich zu sehen, und kann nur eine Stunde bleiben.«
    »Ist schon in Ordnung, Daddy«, sagte Laura, als er widersprechen wollte.
    »Ja, geh nur«, sagte seine Mutter triumphierend. Er merkte, dass sie sich freute – sowohl weil er zögerte als auch weil er diesen Besuch, hätte er davon gewusst, verhindert hätte.
    Als Laura ein Kind war, gab es nur wenig Kontakt. Ein paar Monate nach Lauras Geburt kam seine Mutter, »um auszuhelfen«, doch als Joy ihr das Baby reichte, hielt sie es, als wäre es etwas Unreines. Laura betrachtete ihre Großmutter mit Interesse, lächelte und spuckte eine ordentliche Portion saurer Milch aus. Seine Mutter legte sie wieder in Joys Arme und verbrachte die nächsten fünfzehn Minuten an der Spüle, wo sie mit einem Küchenhandtuch an ihrer Bluse rieb. Sie wollte eine Woche bleiben, doch nach zwei Tagen, in denen sie nicht eine einzige Windel gewechselt hatte, dachte sie sich eine durchsichtige Ausrede aus und flog zurück nach Indiana. »Ich frage mich, wer eigentlich deine Windeln gewechselt hat«, sagte Joy. Sie fand die ganze Episode eher amüsant, während Griffin Mordgedanken hegte.
    Die dreitausend Kilometer Distanz waren während Lauras Kindheit ein adäquater Puffer, doch auch als sie nach Connecticut zogen, änderte sich nicht viel. Erst als Laura auf der Junior High School war und darüber nachdachte, für welches College sie sich bewerben sollte, begann ihre Großmutter sich für sie zu interessieren. Sie fand natürlich, Laura solle nach Yale gehen, und rümpfte die Nase über die kleinen geisteswissenschaftlichen Colleges, die ihrer Enkelin am sympathischsten waren, eben dieselben, an denen sie und Griffins Vater einst als Professoren hatten unterkommen wollen. Jetzt bezeichnete sie diese als »Sicherheitsschulen«. »Du lieber Himmel, nicht Williams«, sagte sie zu Laura. »Weißt du, was für Leute ihre Brut nach Williams schicken? Reiche. Privilegierte. Weiße. Republikaner. Oder schlimmer noch: Leute, die all das werden wollen.« So ähnlich wie deine anderen Großeltern, meinte sie. »Ihre Kinder sind nicht intelligent genug für eins der Ivy-Colleges, aber irgendwohin müssen sie ja, und so schuf Gott Williams.« Griffin konnte sich nicht vorstellen, warum, aber Laura schien sich über all dies gern mit ihrer Großmutter zu unterhalten (die dies als »Brainstorming« bezeichnete), und ihre Telefongespräche dauerten manchmal eine ganze Stunde. Wahrscheinlich geschah es ihm recht, dass sie sich hinter der geschlossenen Tür von Lauras Zimmer abspielten.

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