Diese Dinge geschehen nicht einfach so
zuzuschauen, wie ihre Klassenkameradinnen mit den hellbraunen Haaren die Erde aufwühlten, fauchend, den gelben Mundschutz gefletscht, in Röcken und mit sonnengebräunten Beinen, und wie sie sich mit ihren Feldhockeyschlägern die nackten Schienbeine blutig schlugen, dann mit Eishockeyschlägern, mit Lacrosseschlägern, unfassbar aggressiv, »Blut lässt das Gras wachsen!«, während sie die Statistik führte.)
Sie dreht sich auf die andere Seite, aber es kommt ihr vor, als würde das Foto sie beobachten. Sie dreht den Rahmen um, mit dem Bild nach unten.
So ist es besser. Nicht gesehen werden, nichts sehen. Sie dreht sich auf den Bauch. Zuerst beruhigt sie das: verstärkte Stille, absolute Dunkelheit, passend zum Anlass. Sie weiß nicht recht, was sie eigentlich fühlen soll, aber wenigstens erscheint ihr die Pose angemessen, sozusagen niedergestreckt vom Schmerz (der nicht kommen will) wegen des Vaters und von den Schuldgefühlen wegen der Sache mit ihrer Mutter – was davon noch übrig ist. Kann sein, dass sie die anderen mit der Szene auf dem Flughafen in Verlegenheit gebracht hat, aber sie selbst ist dadurch immerhin einen Teil ihrer Qualen losgeworden. Vielleicht reden sie später ein bisschen mehr darüber. Wahrscheinlich nicht. Es ist nicht Folas Ding, Probleme »auszudiskutieren«. Eher ist anzunehmen, dass sie so tun, als wäre die Sache nie passiert, nicht zuletzt deswegen, weil es jetzt einen viel konkreteren Grund zur Trauer gibt, über den ihre Geschwister allerdings nicht sprechen wollen, nicht auf dem Flughafen, nicht im Auto, als würde es gar nicht stimmen, als wären sie rein zufällig in Ghana – wo keiner von ihnen je war, hat jemand gesagt, außer Olu, kurz nachdem er auf die Welt gekommen war. Als wären sie hier wegen Weihnachten, zum Familienurlaub, und nicht wegen ihres Vaters, unerwähnt und fort.
Aus dem Trost wird Panik, ihr Gesicht im Kissen, sie bekommt keine Luft, wegen des Stoffs und der Hitze. Sie dreht sich wieder um, und ihr wird klar, sie weint eigentlich nur, weil sie sich ausgeschlossen fühlt. Die anderen sind alle woanders, sie reden, ihre Stimmen werden ertränkt durch den Ventilator an der Decke, und sie ist hier allein, sie ist nicht wie die anderen und fühlt sich unterlegen, wie immer, wenn die anderen alle zu Hause sind. Wenn nur einer da ist (oder höchstens zwei, zum Beispiel die Zwillinge), kann sie sich im Allgemeinen darüber hinwegsetzen, aber nicht bei allen dreien. Sie sind so viel älter und größer, so unbegreiflich viel größer und selbstsicherer und attraktiver, sie
leuchten
heller als sie.
Ihre Geschwister leuchten. Olu, Taiwo und Kehinde. Sie kommen leuchtend in die Räume, mit ihren selbstbewussten Schritten, ihren grandiosen Leistungen, und Taiwo mit ihrer Schönheit, sie strahlen vor lauter Talent, die Tasche voller Tricks. Da ist Olus lässige Intelligenz, seine naturwissenschaftliche Begabung, seine tiefe, ruhige Stimme, sein Faktenwissen. Da ist Taiwos düsteres Genie, ihr heiseres, lockendes Flüstern, geschmückt mit langen Wörtern und mit der gelegentlichen französischen Redewendung; ihr ganzes Leben lang, soweit Sadie sich erinnern kann, hat sie das schon, diese Aura des Mysteriösen und der mühelosen Eleganz, eine Aura, wie sie nur Frauen haben, für die Schönheit eine Selbstverständlichkeit ist, nicht eine Frage der Interpretation durch den Betrachter, sondern eine Tatsache. Da ist Kehindes unverfälschtes Talent, die Gabe des Bildes, diese ruhige Gelassenheit, mit der er sich umschaut, als läge über der ganzen Welt ein Muster, das unbeschreiblich schön und bedeutungsvoll ist, ein Raster, und wenn man dieses nur so klar sehen könnte, wie er das kann, dann würde man sofort mit einem Pinsel eine leere Leinwand bearbeiten, genauso selbstverständlich, wie wenn man sich einen Film ansieht oder die Nachrichten: ohne Engagement, einfach nur hinsehen und das Gesehene verstehen. Und dann ist da noch sie selbst. Baby Sadie. Ein gutes Jahrzehnt verspätet, angekommen im Winter, ein fröhlicher Fehler, eine Wundertüte voller Fähigkeiten – fotografisches Gedächtnis, macht Schlüsselbänder,
battement développé
–, aber gänzlich ohne eine Begabung.
Fola ist überzeugt, dass die latent vorhanden ist; seit Jahren sagt sie schon: »Wart’s nur ab! Das kommt schon.« Nichts ist gekommen. Sie hat immer ihre Hausaufgaben gemacht, hat fleißig gelernt und war gut in der Schule, nicht wie Olu und Taiwo, eher so im 85
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