Diese Dinge geschehen nicht einfach so
erschien ihm die Geste absurd. Er trug seinen OP -Kittel, war unrasiert, feuchte Augen, ihm war »letztes Jahr gekündigt« worden, und nun hatte man ihn gewaltsam entfernt. Wie sollte er da Kehinde trösten, der so gefasst wirkte, das blitzsaubere Hemd ordentlich in die Hose gesteckt, gebügelt, und wie immer teilnahmslos? Grotesk. Er ließ ihn los.
So vieles wünschte sich Kweku in diesem Moment: dass er mehr Zeit mit Kehinde verbracht und gelernt hätte, sein Gesicht zu lesen, dass der Junge gesehen hätte, wie
er
vor dem Krankenhaus aktiv wurde, wie er Leben rettete und den Helden spielte, mitten im Chaos, er wünschte sich, dass er den Kunstkurs verboten hätte (oder noch besser, dass er ihn sich hätte leisten können) und dass er ein bisschen näher geparkt hätte, um nicht dieses Spießrutenlaufen überstehen zu müssen. Er wollte unbedingt etwas Geniales sagen, etwas Weises, Umfassendes. Ein Brennen hinter den Ohren. Aber ihm fiel nichts Passenderes ein als: »Tut mir leid, dass du das gesehen hast.«
»Sehen ist subjektiv. Das haben wir in unserem Kurs gelernt.«
Kehinde schaute Kweku an, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Stirn gerunzelt. Ein umgedrehtes Lächeln.
Sie stiegen ins Auto.
»Kind of Blue«.
Er stellte die Musik aus.
Fuhr um den See herum. Die Sonne ging schon unter. Er fuhr, ohne hinzuschauen, ohne hinschauen zu müssen, aus dem Gedächtnis. Sehen statt schauen. Er fuhr auswendig nach Hause. Stumm. Vorbei an der kleinen Schule, die jetzt am Abend verlassen und leer war und die, gesehen statt angeschaut, irgendwie einsam wirkte. Vorbei an den grandiosen Villen – waren sie schon immer so riesig? Sein eigenes Haus schien im Vergleich plötzlich ziemlich bescheiden. Vorbei an den unzähligen Bäumen – waren es schon immer so viele? Wie Damen, die am Straßenrand warteten. Um das dritte von vier Rondells herum (der Stolz von Brookline, überflüssiger Kreisverkehr). Vorbei an einem joggenden Mann mit Hund. Vorbei an dem Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab. Punkt ohne Widerkehr.
Das Laub in der Straße loderte im Sonnenuntergang. Er bog in die Einfahrt und machte den Motor aus. Obwohl er den Gedanken nicht
dachte
, wusste er, dass er Fola jetzt nicht gegenübertreten konnte (Wissen, nicht Erkenntnis), dass er den Anblick nicht ertragen konnte. Eine Sekunde lang Folas Gesicht in Kehindes Gesicht zu sehen, hatte genügt. Sein Versagen auf Kehindes Gesicht zu sehen war mehr, als er ertragen konnte.
Das Licht über der Garage ging an. Alle Lichter im Haus brannten. Sie blieben beide reglos sitzen, Kweku und Kehinde, ohne zu vereinbaren, dass sie sich nicht bewegen wollten. Sie saßen da, wie Männer das gern tun: nebeneinander, den Blick nach vorn gerichtet, stumm und geduldig. So warteten sie darauf, dass ihnen etwas einfiel. »Möchtest du mein Bild sehen?«, fragte Kehinde nach einer Weile. Kweku drehte sich zu ihm, verlegen. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, ihn zu bitten.
»Danke. Ja, gern, bitte.«
Kehinde nickte. »Sekunde.« Er öffnete den Reißverschluss seiner Mappe und holte das Bild heraus.
Selbst in der schlechten Beleuchtung war es atemberaubend schön. Nicht, dass Kweku eine Ahnung davon hatte, wie man ein Kunstwerk beurteilte. Aber man brauchte kein Experte zu sein, um die Leistung zu erkennen, die Intelligenz der Darstellung, die Einfachheit der Form. Ein Junge und eine Frau, von hinten gesehen, Hand in Hand. Kweku deutete auf die Frau. »Wer ist das?« Obwohl er es wusste.
»Das ist Mom«, antwortete Kehinde.
»Und das musst du sein.«
»Nein, das …«
»Olu?«
»Ähm, nein.«
»Aber es ist ein Junge, stimmt’s?«
»Das bist du.«
»Das bin ich?« Kweku lachte. Ein überfallartiges Geräusch in der Stille.
»…« Zeit gewinnend, verzögernd.
Immer noch lachend. »Aber warum bin ich so
klein
?«
»Weil Mom sagt, sie muss immer die Größere sein.«
Kweku lachte jetzt so heftig, dass ihm die Tränen kamen. »Genial.«
Ein kurzes Lächeln. Fünfzehn Sekunden, nicht länger. »Gefällt es dir?«
»Ich finde es ganz toll. Absolut genial.« Er schnappte nach Luft. »Sie sagt das wirklich, stimmt’s?«
»Ja, und immer mit einem ›stimmt’s‹ am Schluss. ›Ich muss immer die Größere sein
, stimmt’s
?‹«
Kweku lachte noch heftiger, die Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Stimmt.«
Kehinde kicherte verlegen und schaute zum Haus. »Eigentlich war das Bild für Mom. Aber du kannst es haben, wenn du willst.«
»Ich
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