Diese eine Woche im November (German Edition)
Jahrzehnten Bankrott. Ein elektrischer Flaschenzug, verrostete Ketten, die von der Decke baumeln, und die stillgelegte Esse erinnern daran, dass hier vor Langem Eisen geformt wurde. Rinaldo hat das Gelände gekauft und unbemerkt seine Basis darin errichtet. Es gab Versuche von Grundstücksspekulanten, das Haus zu erwerben. Rinaldo hat sie abgewimmelt.
» Was macht denn der Hut da? « Vor dem Tisch bleibt Tonio stehen.
» Du hast ihn liegen lassen. «
» Echt? « Unschlüssig dreht er ihn in den Händen. Tonio will Rinaldo etwas sagen und weiß nicht, wie er beginnen soll.
» Draußen regnet es, oder? « Der Weißhaarige fröstelt. Über dem Stuhl hängt sein Sweater. » Gibst du mir den Pulli? «
Als Tonio sich über ihn beugt, sagt Rinaldo: » Am schönen Wetter kann deine gute Laune also nicht liegen. «
Tonio weicht seinem Blick aus. » Ich habe ein Mädchen kennengelernt. «
Bei den Jungs von der Straße gehen die Liebesgeschichten schon mit dreizehn, vierzehn Jahren los. Rinaldo hat sich schon gewundert, weshalb es bei Tonio noch nie gefunkt hat.
» Verstehe. « Er zieht den Pulli über.
» Sie ist ziemlich hübsch. « Tonio betrachtet die alten Backsteinmauern, als ob es dort etwas Interessantes zu entdecken gäbe.
» Stammt sie von hier? «
» Nein, sie ist Touristin. Eine Deutsche. «
» Dann musst du dich beeilen. «
» Wieso? «
» Weil sie bald nach Germania zurückkehren wird. « Die Pille tut ihre Wirkung. Rinaldo fühlt sich besser.
» Was soll ich deiner Meinung nach machen? « Wie ein aufmerksamer Schüler setzt er sich zu Füßen des Freundes.
» Geh mit ihr aus. «
» Kann ich nicht. «
» Weshalb? «
Tonio erzählt in groben Umrissen, was passiert ist. Er schämt sich für die Albernheit mit dem Geldbeutel.
Rinaldo grinst. » Du hast sie in einen Hausflur gezerrt? «
» Es ging nicht anders. Sonst säße ich jetzt im Knast. «
» In welchem Hotel ist sie abgestiegen? «
» Woher soll ich das wissen? «
» Weißt du sonst irgendetwas von ihr? «
» Sie heißt Julia. «
» Das ist dürftig. «
Tonio fährt sich über den Kopf. » Ich hatte eine Kreditkarte in der Hand. Es war nicht ihre. Der Name lautete … « Er schließt die Augen. » Reichelt , glaube ich. Sechs, drei, acht, acht, die ersten Ziffern. «
Rinaldo greift zum Tablet.
Neugierig beobachtet Tonio den Weißhaarigen. » Würdest du das für mich rauskriegen? «
» Versuchen kann ich’s ja. «
Venedigs Hotelbetreiber und die Besitzer von Ferienunterkünften sind verpflichtet, die Personalien ihrer Gäste zu melden. Rinaldo schleust sich ins Melderegister ein. Ein paar Minuten später zeigt er Tonio das Ergebnis.
» Hotel Don Giovann i ? « Der Junge nickt. » Das könnte stimmen. Dort um die Ecke hat Pippa der Blonden die Brieftasche abgenommen. «
» Und was wirst du jetzt tun? « Rinaldo legt die Beine hoch.
» Was könnte ich denn tun? «
» Wenn ich in deinem Alter wäre, wüsste ich das. «
Gespannt sieht Tonio den Freund an.
9
D er Palazzo Corniani, im Bezirk Santa Croce gelegen, ist seit Langem unbewohnt. Die Balkone und Loggien sind eingestürzt, die Dachbekränzung ist verrottet, der Putz hängt nur noch in kleinen Inseln an der Fassade. Während die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte vergingen, sank das Bauwerk immer tiefer in den Schlamm. Das Fundament Venedigs wurde auf Hunderttausenden Baumstämmen errichtet. Die Stadtgründer ließen dafür die Wälder Istriens abholzen. Die Bäume wurden über die Adria geschafft und mit den Kronen nach unten in den Boden gerammt. Danach wurden die Stämme mit Sand, Teer und Öl zu einer festen Fläche verkittet. Die Wasserrinnsale, die dazwischenlagen, wurden die Kanäle, Venedigs Verbindungsstraßen.
30 000 Häuser, Kirchen und Paläste stehen auf Eichen- und Lärchenstämmen. Ein Jahrtausend lang trugen die Bäume ihre Last, bis das Motorboot erfunden wurde. Bis sich die Industrie rund um Venedig ansiedelte. Die Schiffsschrauben bewegen das Wasser in den Kanälen so heftig, dass es unablässig an die Fundamente schlägt. Die Industrie leitet ihre chemischen Abfälle in die Lagune. Sie zerfressen das alte Holz. Immer öfter wird die versinkende Stadt vom Meer überspült. Dann stehen Plätze und Straßen unter Wasser und die Kellner auf dem Markusplatz servieren den Cappuccino in Gummistiefeln.
Diesem Palazzo erging es nicht besser. Hätte die Familie, der er früher gehört hatte, ihr Stammhaus nicht längst geräumt, heute könnte sie nur noch
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