Diese eine Woche im November (German Edition)
allein dort unten sitzt. Herbert schlüpft ins Sakko. Auf die Krawatte verzichtet er.
3
T onio springt über brüchige Pflastersteine. Dunst steigt vom Wasser auf, Nebel erfüllt die Gassen. Die Straßenlaternen sind alt, ihr Licht ist schwach. Sein Ziel liegt am Canale Grande. Wer glaubt, im November bevölkern weniger Touristen die Stadt, kennt Venedig nicht. An Spitzentagen treiben sich fünfmal so viele Fremde in den Gassen herum, als es Venezianer gibt. Doch die Calle, durch die Tonio seinen Weg nimmt, ist verlassen. Die Fassaden sind Schemen, wie trübe Inseln leuchten einzelne Fenster darin. Alles versinkt im Nebel. Würde Tonio die Stadt nicht kennen wie seine Westentasche, wäre selbst er heute verloren.
» Ich schwöre, ihr habt den Falschen. «
Tonio verharrt mitten im Schritt.
» Du bist schon die richtige Ratte, mein Freund « , antwortet ein zweiter Mann mit einer Stimme, so tief, wie Tonio noch keine gehört hat.
» Wenn ich dein Freund bin, lass mich laufen, Sandro! «
Tonio wird erwartet. Er will weiter. Aber das Flehentliche in der Stimme nimmt ihn gefangen. Seine Hand ertastet einen Mauervorsprung, eine Gittertür ist in die Vertiefung eingelassen. Nur mal gucken, denkt er. Lautlos zieht Tonio die Tür auf und betritt den Innenhof.
Sie sind zu viert, vier Männer. Zwei von ihnen halten einen kleinen Signore fest. Er ist untersetzt, trägt einen eleganten Mantel und Hut. Eine Brille blitzt auf seiner Nase.
» Bring mich nicht um « , flüstert er.
» Sehe ich wie ein Mörder aus? « , antwortet der mit der Grabesstimme.
Soweit Tonio das erkennt, könnte man den Kerl durchaus für einen Mörder halten. Schwarzes Ledersakko, das Haar streng nach hinten frisiert. Er trägt Handschuhe.
» Sag dem Trucido, er irrt sich! « Der kleine Mann windet sich zwischen den Typen. » Ich will mit ihm sprechen! Ich erkläre es ihm! «
» Er braucht dein Geständnis nicht. Er weiß, du bist der Verräter. « Der Schwarze lächelt. » Verrat wird bei uns von alters her auf die gleiche Weise bestraft. « Er gibt den anderen ein Zeichen. Sie zerren den Mann zum Steinbrunnen in der Mitte des Hofes.
» Nein! « Verzweifelt will er die Männer abschütteln, verliert seinen Hut dabei. » Nein! Nein! Nein! « Er lässt sich zu Boden fallen, die Kerle reißen ihn hoch. Er strampelt mit den Beinen. » Sandro, ich flehe dich an! «
» Benimm dich wie ein Mann. « Plötzlich hat der andere ein Beil in der Hand.
In seinem Versteck saugt Tonio vor Schreck die Luft ein.
» Santa Maria! Lieber Heiland, lass das nicht zu! «
» Der Heiland ist gerade verhindert. « Sandro tritt vor sein Opfer. » Den Ärmel « , sagt er zu den Männern.
Die ziehen den Mantelärmel hoch und öffnen die Manschette.
» Wollt ihr Geld? « , schreit er mit tränenerstickter Stimme. » Ich gebe euch Geld, jedem von euch! «
» Du sparst deine Kröten besser für die Arztrechnung « , antwortet Sandro. » Halt still. «
Das Nein schallt durch den Hof. Kein Fenster wird hell, das Haus muss verlassen sein. Tonio zittert am ganzen Körper. Was soll er tun? Wegrennen und die Carabinieri rufen? Dann wäre das Verbrechen längst geschehen. Er bleibt im Schatten und starrt zum Brunnen.
» Herrje, ist das mühsam mit dir. « Sandro weist die anderen an, den Mann am Zucken zu hindern. Es wird still. Das Beil fährt hoch. Trübes Mondlicht spiegelt sich darin. Das Beil saust herab.
Tonio will hinrennen, schreien, irgendetwas tun. Er kriegt keinen Ton heraus. Er hat es gesehen, hat zu viel gesehen. Er muss schleunigst fort.
Sandro hat es auf einmal eilig. » Weg hier. « Eine Plastiktüte, etwas verschwindet darin. Gemeinsam rennen die drei Männer los. Kommen auf den Torbogen zu, unter dem Tonio sich versteckt. Er hat vergessen, das Gitter zu schließen. Seine Jacke ist dunkel, doch er hat helle Turnschuhe an. Sehen sie ihn? Eigentlich müssen sie ihn sehen. Tonio starrt ihnen entgegen. Sandro ist jetzt so nah, dass man ihn anspucken könnte. Sein Gesicht ist ernst und bleich. Er läuft vorbei. Die anderen poltern hinterher, einer trägt den Plastikbeutel. Das Gitter quietscht, rasche Schritte, sie werden leiser. Der Nebel verschluckt die Schritte.
Tonio atmet angestaute Luft aus, lauscht und wartet. Er will fort aus diesem Hof, umfasst das Gitter mit beiden Händen, ein Sprung, und er wäre draußen. Er dreht sich um.
Am Brunnen kauert der kleine Mann. Er schreit nicht mehr, es klingt jetzt eher wie das Wimmern eines Kindes. Tonio schaut
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