Diese eine Woche im November (German Edition)
Zahlen verschwinden. Das sind Dinge, die Tonio nicht zu sehen braucht. Der Screen verwandelt sich in ein Paradies aus Wellen. Greifbar echt brandet die See auf dem Hologramm heran. Der Fahrstuhl öffnet sich.
Rinaldo und sein junger Freund reden wenig, das ist so ihre Art. Selten erzählen sie von sich selbst oder was in ihnen vorgeht. Der Weißhaarige stellt auch heute keine Fragen, obwohl er spürt, den Jungen hat etwas aus dem Gleichgewicht geworfen. Er schenkt ihm ein Glas Saft ein. Tonio trinkt. Dann beginnt er stockend zu erzählen.
Rinaldo hat Tonio aufgegriffen, als dessen Mutter schon lange tot war. Er lebte bei seinem Vater, einem trübsinnigen Kerl, der sich in den Chemiewerken von Mestre als Tagelöhner verdingte. Seit der Schnaps sein ständiger Begleiter geworden war, lebte er von Sozialhilfe und ließ den Jungen in einem Loch von Wohnung verwahrlosen. Nachts band er ihn ans Bett, wenn er auf Sauftour zog. Als die Nachbarn das nächtliche Geschrei des Kindes nicht mehr aushielten, meldeten sie es dem Jugendamt. Tonio kam in staatliche Fürsorge. Es war nur ein neues Gefängnis, eingetauscht gegen sein früheres. Schwer vorstellbar, doch der Junge liebte den brutalen Mann, den todtraurigen Säufer, seinen Papa, trotz allem, was er ihm angetan hatte. So klein Tonio war, spürte er, das Elend des Vaters kam daher, dass er seine Frau verloren hatte, Tonios Mutter.
Der Kleine sah sich nicht als Waisenkind, er hatte doch eine Familie, seinen Vater. Mit fünf Jahren brach er aus dem Waisenhaus aus und kehrte zu dem grölenden, unberechenbaren Mann zurück, den er liebte. War sein Vater überrascht, gerührt über die Treue seines Sohnes? Erwiderte er dessen Gefühl in der Tiefe seines Herzens?
Vater und Sohn blieben wieder ein paar Jahre zusammen. Sie zogen um. Tonio kam auf die Schule. Der Vater versuchte zu arbeiten. Es ging nicht lange gut. Diesmal sperrte man ihn ein, wegen Kameradendiebstahl. Er hatte die Spinde seiner Arbeitskollegen aufgebrochen. Tonio wollte auf keinen Fall wieder ins Heim und bat einen Kumpel seines Vaters um Hilfe. Der Kumpel half, aber die Hilfe war nicht umsonst. Ein Zehnjähriger ist kein Baby mehr. Für gewisse Aufgaben kann man ihn gut gebrauchen.
Tonio sah dabei nur das Abenteuer, nicht das Risiko. Von nun an gehörte er zu einer Gang, das war seine neue Familie. Er sah sich als Freibeuter. Sie erbeuteten, was nicht niet- und nagelfest war und sich schnell abtransportieren ließ. Sie brachen in Häuser ein, griffen sich Elektronikgeräte, Teppiche, manchmal Schmuck. Ziele gab es genug. In und um Venedig stehen viele Ferienwohnungen den Großteil des Jahres leer.
Tonio hatte etwas gefunden, was Spaß machte und einträglich war. Er ließ die Schule sausen. Er sparte Geld für den Tag, wenn sein Papa aus dem Knast kommen würde. Tonios Zeit als Freibeuter endete schon früher. Sie fassten ihn bei einem Einbruch und steckten ihn in die Anstalt. Er entkam wieder. Er schlug sich durch.
An einem Morgen im April erwartete Tonio seinen Vater vor dem Gefängnistor und gab ihm voll Stolz das gesparte Geld. Der Alte nahm es und haute damit ab. Er ließ seinen Sohn im Stich. Er schlug ihm damit eine Wunde, von der sich ein Kind kaum je erholt. So untauglich, so lächerlich Tonios Familie gewesen war, der Junge hätte für ihren Zusammenhalt alles getan. Zurückgestoßen von seinem Papa, verschloss er sich in seinem Inneren. Er gab dem Leben die Härte zurück, die er von ihm erfahren hatte. Tonio war nicht besonders groß, aber flink und stark. Er setzte sich mit seinen Fäusten durch, mit Eisenrohren, mit dem Messer. Seine Gegner hatten auch Messer, sie waren älter und stärker. Sie bewiesen Tonio, dass man mit zwölf kein Mann ist. Der Stich in seinen Unterleib war tief. Er kam ins Krankenhaus. Dort entfernten sie seine rechte Niere. Am nächsten Morgen besuchte ihn ein Unbekannter. Er hatte langes weißes Haar und eine gebrochene Nase. Er redete nicht viel, saß nur an seinem Bett. So begann ihre Freundschaft.
» Mit einem einzigen Schlag « , sagt Tonio. Sein Glas ist leer. Er lümmelt auf dem steinernen Band, das sich rund um den Raum zieht. » Wollten die ihn umbringen? «
» Nein « , antwortet Rinaldo. » Sie haben ihm einen Denkzettel verpasst. Er hat dir verboten, die Polizei zu rufen? «
» Er wollte mir sogar Geld geben, damit ich den Mund halte. «
» Bist du sicher, dass du das Wort richtig verstanden hast? Sagte er wirklich: Trucido? «
» Geschrien hat er es:
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