Diese eine Woche im November (German Edition)
Sag dem Trucido, er irrt sich. «
Tonios Erlebnis macht den Weißhaarigen nachdenklich. Sein Kopf sagt ihm: Du kennst das. Du hast davon gehört. Doch die Erinnerung ist zu ungenau, zu spät die Stunde.
» Trucido – was bedeutet das? « , fragt der Junge.
» In Venedig gab es mal eine Geheimgesellschaft, die Trucidi. «
» Könnten die etwas damit zu tun haben? «
» Nein. «
» Warum? «
» Weil die Bruderschaft seit dreihundert Jahren nicht mehr existiert. « Rinaldos Blick fällt auf den Hut. » Was ist das? «
Tonio hatte das Ding schon fast vergessen. » Der gehörte ihm. «
» Warum hast du den Hut mitgenommen? «
» Keine Ahnung. «
Die Zeit wird knapp. Wenn sich die beiden Geschäftspartner nicht beeilen, ist das bisschen Plastik, das Tonio gestohlen hat, wertlos. Er steht auf und gibt dem Älteren die Tasche.
» Wie viele Karten? «
» Vier. «
» Wie alt? «
» Zwei Stunden. «
» Das ist alt. « Rinaldo steckt die erste Karte ins Lesegerät. Nach ein paar Sekunden gelangt er ins Innere der Bank. » Gesperrt. « Er wirft sie in den Müll. Mit der zweiten ist es das Gleiche. Die dritte Karte ist noch gültig. Er hackt Kennziffer und Code, schon steht ihm der Kreditrahmen zur Verfügung. Er hebt ab und überweist. Das Geschäft ist abgeschlossen.
Normalerweise würde Tonio jetzt gehen. Rinaldo spürt, er will noch bleiben. Dem harten Burschen sitzt die Angst in den Knochen. Rinaldo setzt Wasser auf. Ein guter Teller Nudeln heilt auch den größten Schrecken. Der Dieb und sein Beschützer setzen sich an den alten Nussholztisch.
5
P ippa taucht früh vor dem Café auf. Sie trägt eine Jacke mit vielen Taschen, wirft das Haar aus der Stirn und geht hinein. Sie bestellt Cappuccino. Über dem Spielautomaten hängt eine Uhr. Wann wird Tonio sich angewöhnen, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen? Der Morgen ist eine gute Zeit fürs Geschäft. Neugierig ziehen die Touristen von ihren Hotels aus los, abenteuerlustig rechnen sie nicht damit, gleich morgens beklaut zu werden.
Pippa hat keine Eltern mehr. Sie wohnt bei einem alten Mann, den sie Onkel nennt. Er ist an den Rollstuhl gefesselt, in einer Stadt wie Venedig ein hartes Los. Pippa führt ihm den Haushalt. Die beiden kommen gut miteinander aus, außer wenn der Onkel Schmerzen in den Beinen hat. Pippa geht zur Schule. Ihre Arbeitszeit beschränkt sich daher auf den Morgen und den Abend.
Dort kommt Tonio. Schlurft müde auf das Café zu, kann kaum aus den Augen gucken. Er hat dasselbe T-Shirt an wie gestern. Pippa nimmt eine Brioche aus der Vitrine. Tonio rutscht auf den Hocker neben ihr. Er gibt der Donna hinterm Tresen ein Zeichen, dass er einen Kaffee will, so hoch wie ein Haus.
» Hast du wieder in deinen Klamotten geschlafen? « , fragt Pippa.
Er lümmelt sich auf den Ellbogen. Sprechen am frühen Morgen ist für ihn ein Gräuel. Pippa das genaue Gegenteil. Bei Sonnenaufgang verwandelt sie sich in eine Plaudermaschine.
» Wieder der Albtraum? «
Tonio nickt. Der Traum verfolgt ihn, er kann nicht sagen, wie lange schon. Der düstere Mensch im Traum bindet ihn ans Bett. Tonio ist noch klein, verängstigt macht er keinen Mucks. Der Strick tut weh. Der Mann verschwindet nach nebenan und sagt ein paar Worte zu einer Frau. Tonio schließt die Augen. In der Finsternis weckt ihn das Stöhnen der Frau, sie ruft um Hilfe. Tonio zerrt an seiner Fessel. Ihre Hilfeschreie sind quälend. In seiner Not lässt er sich aus dem Bett fallen, hievt mit äußerster Anstrengung den Bettfuß hoch, um den der Strick geschlungen ist. Tonio läuft nach drüben. Die Frau ist verschwunden. In ihrem Bett liegt eine tote Taube. Keins der hässlichen Viecher, die den Markusplatz bevölkern. Diese Taube ist weiß, sie ist voll Blut.
» Warum triffst du dich nicht mal wieder mit deinem Vater? « Pippa beißt ins Hörnchen.
» Wozu? Wenn wir uns sehen, will er ja doch nur Geld von mir. Außerdem habe ich keine Ahnung, wo er steckt. «
» Arbeitet er nicht im Chemiewerk? «
» Zuletzt habe ich gehört, er ist bei der Müllabfuhr. Wahrscheinlich säuft er sich irgendwo zu Tode. « Tonio lässt den Kopf sinken. » Ist mir auch egal. «
» Wirklich? «
» Ja, wirklich! Und jetzt halt die Klappe. «
Die Donna bringt den Kaffee. Er trinkt und glotzt vor sich hin. Dabei ist Tonio froh, dass Pippa da ist. Sie tut ihm gut. Er kennt niemanden, mit dem er so gern zusammen ist. Er mag ihre kleinen Ohren und den Mund, der erstaunlich breit wird, wenn sie lacht. Jetzt hat
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