Diese Sehnsucht in meinem Herzen
Das war ja ein richtiger Albtraum! Kein Wunder, dass sie Nate in den letzten Tagen nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Wahrscheinlich übernachtete er sogar im Büro. Der arme Kerl! Aber warum hatte er ihr bloß nichts davon erzählt?
In diesem Moment glaubte sie zu hören, wie in der Wohnung unter ihr eine Tür ins Schloss fiel.
Josey stand auf und fuhr sich hektisch mit den Fingerspitzen durch das zerzauste Haar. Dann sah sie an sich herunter und stürzte ins Schlafzimmer. Dort riss sie eine Kommode auf und nahm ihre kurzärmelige, dünne weiße Baumwollstrickjacke heraus. Sie zog sich das ausgediente schwarze T-Shirt, das sie gerade trug, über den Kopf und knöpfte die obersten kleinen Perlenknöpfe der Strickjacke auf, bevor sie hineinschlüpfte. Ein Blick in den Spiegel, und sie beschloss, die Knöpfe offen zu lassen. Irgendwie wirkte ihr Dekollete nun aber ein bisschen nackt, also legte sie sich eine Kette mit einem kleinen Silberherz um den Hals. Dann knöpfte sie die alte Jeans mit den fast durchgewetzten Knien auf und hielt inne. Was machte sie da eigentlich gerade?
Nun reicht es aber, sagte sie streng zu sich selbst, als sie die Jeans wieder zuknöpfte und ihre bloßen Füße in flache schwarze Ballerinas steckte. Du gehst jetzt nach unten zu Nate, aber bloß als gute Freundin.
Als sie unten anklopfte, schwang sofort die Tür auf, und Nate stand vor Josey. Er hatte noch seinen Büroanzug an, der nur ein kleines bisschen zerknittert aussah.
Nicht mal die Krawatte hatte er gelöst. Dafür hingen die Schnürsenkel eines Schuhs lose herunter, als hätte Nate gerade damit angefangen, es sich bequem zu machen, als Josey auftauchte. Auf den ersten Blick wirkte er so; als könnte er gut und gern acht oder zwölf Stunden weiterarbeiten, falls nötig.
Doch als sie ihm in die Augen sah, erkannte sie, wie erschöpft er war. Er blinzelte mehrmals und hatte dabei offenbar jedes Mal Schwierigkeiten, die Augen wieder zu öffnen. Dann atmete er tief durch und lächelte angestrengt. „Hallo, Josey“, grüßte er, und er klang sehr müde.
„Nate“, erwiderte sie. Dann trat sie ein Stück auf ihn zu und sah ihm in die Augen. „Ist bei dir alles in Ordnung?“
„Klar“, sagte er, dann fügte er mit Nachdruck hinzu: „Natürlich. Warum fragst du?“
„Na ja, vielleicht weil ich dich schon tagelang nicht gesehen habe.“
„Tut mir Leid.“ Obwohl er sie ansah, war er in Gedanken offensichtlich ganz woanders. Im Gerichtssaal wahrscheinlich. Und er machte keinerlei Anstalten, Josey in seine Wohnung zu bitten.
„Darf ich reinkommen?“
„Ich… Josey, weißt du…“, begann er und schien sie nun ein wenig besser wahrzunehmen. „Im Moment bin ich nicht gerade die beste Gesellschaft.“
„Ich habe in der Zeitung von dem Fall gelesen, an dem du gerade arbeitest.
Beraten sich die Geschworenen noch?“
Nate nickte. „Ja, heute ist Freitag, und die Geschworenen wollen am Montag nicht noch einen Arbeitstag verpassen, also wird es wahrscheinlich spät.
Trotzdem ist nicht gesagt, dass sie sich heute einigen werden.“
„Darf ich trotzdem reinkommen?“ drängte Josey. „Ich kann dir doch Gesellschaft leisten, während du auf den Anruf wartest. Vielleicht hast du ja Lust, Karten zu spielen. Und wenn du Hunger hast, kann ich dir ganz schnell was vom Imbiss um die Ecke holen.“ Sie kam sich ziemlich aufdringlich vor, aber sie konnte sich einfach nicht zurückhalten. In seinem traurigen Blick meinte sie eine unendlich große Sehnsucht zu erkennen, und Josey versuchte verzweifelt herauszufinden, was sie ihm geben konnte.
„Mach dir keine Sorgen, Josey“, sagte er schließlich, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Ich brauche nichts. Komm gern rein, wenn du willst, aber ich bin nicht in meiner besten Stimmung.“ Dann trat er zur Seite, und Josey ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Dabei berührten sich ihre Oberarme ganz leicht. Nate erschauerte, aber der magische Moment war so schnell wieder vorbei, wie er gekommen war.
Nun standen sie sich gegenüber, und Josey musterte Nate besorgt. Dann bewegte sie sich ein Stück auf ihn zu, und unwillkürlich musste er daran denken, wie er auf der Straße ihre Hand gehalten hatte. Ihm war ganz warm geworden, denn in diesem Moment hatte er sie in sein Herz gelassen.
Aber so etwas konnte er sich nicht wieder erlauben, so nah durfte er sie nicht noch mal an sich heranlassen. Er würde sie am Ende bloß verletzen, und das könnte er nicht
Weitere Kostenlose Bücher