Diesen Sommer bin ich dein
die das Schweigen
brach, das auf seine Geschichte folgte.
»Sie lebt?« Eine
rhetorische Frage.
Er beantwortete sie
dennoch. »ja, oder hat zumindest bis vor kurzem gelebt.«
»Es gab Briefe von
ihr, seit ich mit elf zuletzt von ihr hörte?«
»Es war besser,
dass du sie für tot hieltest, Lauren. Kilbourne und ich waren darin einer
Meinung.«
»Sie wollte, dass
ich sie auf ihren Reisen begleitete?«
»Es ging dir da, wo
du warst, besser.«
Ihre Mutter lebte.
Sie hatte Lauren bei sich haben wollen. Sie lebte. Sie hatte ihr weiter
geschrieben. Sie war in Indien, wo sie mit mindestens zwei Männern
zusammengelebt hatte, die nicht ihre Ehemänner waren. Sie lebte.
Sie lebte.
»Die Briefe?«,
fragte sie, plötzlich verzweifelt. »Die Briefe, Großpapa? Hast du sie
vernichtet?«
»Nein.«
»Es gibt sie noch?
Alle ihre Briefe an mich? Briefe aus fünfzehn Jahren?«
»Zweiunddreißig
Stück«, sagte er mit tonloser, schwerer Stimme. »Ich habe sie alle aufbewahrt,
ungeöffnet.«
Da presste sie eine
Hand auf den Mund und schloss fest die Augen. Sie schwankte, dann fühlte sie
starke Hände sich von hinten um ihre Oberarme schließen.
»Es wäre wohl das
Beste, wenn Ihr zum Haus zurückkehren würdet, Sir«, sagte Kit. »Geht und ruht
Euch aus. Ich kümmere mich um Lauren.«
»Versteht Ihr
jetzt?« Die Stimme ihres Großvaters klang bekümmert. »Es war falsch. Verdammt
sollt Ihr sein, Ravensberg, es war falsch.«
Sie zog sich von
dem zurück, was sich wie ein langer, dunkler Tunnel anfühlte, den sie
hinabfiel. Aber sie öffnete nicht die Augen.
»Es war nicht
falsch, Großpapa«, sagte sie. »Es war nicht falsch.«
Sie konnte ihn sich
eher entfernen spüren als hören. Dann legte Kit einen Arm sehr fest um ihre
Taille und zog sie an sich, bevor er mit ihr weiter am Ufer des Sees
entlangging. Sie senkte den Kopf auf seine Schulter.
»Sie lebt«, sagte
sie.
»Ja.«
»Sie wollte mich.
Sie hat mich geliebt.«
»Ja.«
»Und sie hat
niemals aufgehört, mich zu lieben.«
»Nein.«
Sie stolperte, und
er umfasste sie noch fester. Sie blieben an einer besonders hübschen Stelle des
Ufers stehen, mit Beeten gezüchteter Anemonen zwischen dem grasbewachsenen Ufer
und einer Baumreihe. jenseits des Sees war der Pavillon zu sehen.
»Kit«, sagte sie.
»Kit.«
»Ja, meine Liebe.«
Sie weinte. Lange
und hilflos, ein heftiger Tränenstrom. Tränen für das einsame, verletzte Kind,
das sie gewesen war, um das Mädchen, das sich so sehr allein gefühlt hatte,
obwohl es von Liebe umgeben war. Tränen für die schreckliche Grausamkeit der
Liebe - die Grausamkeit von Menschen, die sie geliebt hatten. Für die
Mutter, die nicht tot war. Die sie genügend geliebt hatte, dass sie ihr in
fünfzehn Jahren zweiunddreißig unbeantwortete Briefe geschrieben hatte. Die
niemals nach Hause kommen konnte, weil sie sich auf eine Art verhalten hatte,
die in der besseren Gesellschaft in England unverzeihlich war.
Kit hob sie hoch
und setzte sich mit ihr aufs Gras. Er hielt sie auf dem Schoß, schmiegte sie an
sich, barg sie in seinen schützenden Armen, summte Unsinniges in ihr Ohr.
Schließlich war sie
still. Die Sonne, die hinter einer Wolke hervorsah, schien strahlend auf den
weißen Marmor des Pavillons. Sein heller Widerschein zitterte im darunter
befindlichen Wasser.
»War es falsch?«,
fragte Kit sanft.
»Nein.« Sie putzte
sich mit einem Taschentuch die Nase, steckte es wieder in ihre Tasche und
lehnte den Kopf erneut an seine Schulter - er musste ihr den Hut
abgenommen haben, als sie sich hinsetzten. »Die Menschen, die wir lieben, sind
meistens stärker, als wir es ihnen zutrauen. Vielleicht ist es das Wesen der
Liebe, lieber allen Schmerz auf sich nehmen zu wollen, als den geliebten
Menschen leiden zu sehen. Aber manchmal ist Schmerz besser als Leere. ich war
so leer, Kit. Mein ganzes Leben lang. So voller Leere. Das ist ein seltsames
Paradox, oder - voller Leere?«
Er küsste ihre
Schläfe.
»Du warst es, nicht
wahr? Du hast Großpapa dazu überredet?«
»Ich riet ihm, es
dir zu sagen.«
»Danke.« Sie
schmiegte sich noch enger an ihn. »Oh, Kit, ich danke dir.«
Er küsste wieder
ihre Schläfe und als sie das Gesicht hob, küsste er sie auf den Mund.
»Ich muss
schrecklich aussehen«, sagte sie.
Er zog den Kopf
zurück und betrachtete sie genau. »Gütiger Himmel! ja! Schrecklich! Ich werde
all meinen Mut aufbringen müssen, um nicht schreiend zum Haus zu rennen.«
Sie lachte. »Du
bist albern!«
Er würde
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