Diesen Sommer bin ich dein
verhielten
sich beide, als gäbe es den anderen nicht. Und doch hatte Kit Wert darauf
gelegt, sie bei ihrer Ankunft miteinander bekannt zu machen. Sie hatte in dem
Moment den Eindruck gehabt, als platze er fast vor Zuneigung zu seinem
entsetzlich entstellten Bruder. Was war geschehen?
Die Familie des Earl of Redfield stand sich
gewiss nicht sehr nahe und war keine glückliche Familie, vermutete sie.
Plötzlich erschien ihr ihre Aufgabe, jene Aufgabe, die sie an dem Abend in
Vauxhall so zungenfertig übernommen hatte, wirklich beängstigend. Wie konnte
sie helfen, Kit mit seiner Familie zu versöhnen, wenn es sich eindeutig um
tiefe und alte Wunden handelte? Und wenn sie daran die Schuld trüge, dass sich
die Kluft noch verbreiterte, die Wunden noch verschlimmerten? Und wenn sie die
Verlobung löste ...
Aber dann wurden ihre Gedanken von der
Duchess-Witwe abgelenkt, die mit der offensichtlichen Absicht, sich zu
erheben, ihren Stock ergriffen hatte. Lauren unterdrückte ihren ersten Impuls,
aufzuspringen und ihr zu helfen. Sie war nicht um Hilfe gebeten worden, und jegliche
Aufdringlichkeit von ihrer Seite könnte übel genommen werden. Stattdessen
lächelte sie.
»Gehst du zu Bett, Mutter?« Der Earl kam
auf sie zu. »Erlaube mir, deine Ankleidefrau zu rufen.«
»Ich ... gehe ... erst ... spazieren«,
sagte sie.
»Die Abendluft wird deinen Lungen schaden,
Mutter«, sagte die Countess mit erhobener Stimme. »Warte bis morgen früh.«
»Ich ... gehe jetzt«, erwiderte die alte
Lady entschlossen und scheuchte ihren Sohn mit der freien Hand fort. »Mit ...
Kit. Und Miss ... Edgeworth.«
»Sie beharrt stets darauf, dass ihr frische
Luft und Bewegung gut täten«, erklärte die Countess Tante Clara. »Obwohl ich
mir sicher bin, dass Ruhe besser für sie wäre. Sie besteht jeden Tag darauf,
die Terrasse entlang- und wieder zurückzugehen, bei Regen oder
Sonnenschein. Aber das geschieht gewöhnlich morgens.«
Kit war inzwischen herangetreten und hatte
den freien Arm seiner Großmutter durch den seinen gezogen, während sie sich mit
der anderen Hand auf ihren Stock stützte. Er lächelte sein übliches strahlendes
Lächeln.
»Wenn du jetzt spazieren gehen willst,
Grandma«, sagte er, »dann werden wir mit dir gehen. Wenn du eine Gigue tanzen
möchtest, dann werden wir eine Gigue tanzen - bis du mich erschöpft hast.
Kommst du mit, Lauren?«
»Natürlich«, sagte sie und erhob sich.
Und so hatten sie fünf Minuten später ihre
Mäntel angezogen und schlenderten die Terrasse entlang, fort von den Ställen,
Kits Großmutter an seinem Arm, Lauren auf seiner anderen Seite, die Arme hinter
sich verschränkt.
»Erzählt mir«, sagte die alte Lady auf ihre
übliche langsame, mühsame Art, »wie ihr ... euch kennen gelernt habt.«
Kits Blick begegnete Laurens über den Kopf
der Großmutter hinweg, und seine Augen tanzten. »Grandmama ist eine unheilbare
Romantikerin«, erklärte er. »Erzähl du es ihr, Lauten.«
Aber er war bei solchen Geschichten
geschickter als sie, dachte Lauren. Wie er sie durch einen bevölkerten Ballsaal
hinweg zufällig erblickt hatte, sein Herz einen Moment aussetzte, und er
wusste, dass sie die Frau auf Erden war, die für ihn bestimmt war - bei
ihm klang das alles recht seelenvoll. Außerdem musste es aus seiner Perspektive
erzählt werden. Sie könnte natürlich beschreiben ... Sie lächelte im Stillen'.
»Es war eines Morgens im Hyde Park«, sagte
sie und sah, wie das Lachen in Kits Augen innehielt, bevor sie den Kopf
abwandte und fortfuhr. »Lord Ravensberg - Kit - befand sich mitten
in einem Faustkampf mit drei Arbeitern, während die Hälfte der Gentlemen der
vornehmen Gesellschaft ihn anspornten. Er war bis zur Taille nackt und fluchte
höchst schändlich.«
Sie hörte sich selbst einigermaßen erstaunt
zu. Lauren Edgeworth erzählte niemals solch schmutzigen Geschichten. Und sie
wurde niemals, weder in Worten noch in Taten, von einem Gefühl des Übermuts
ergriffen.
Die alte Lady überraschte sie mit
schallendem Gelächter.
»Die Männer hatten eine Milchmagd
beleidigt«, fuhr Lauren fort, »und Kit war zu ihrer Verteidigung geeilt. Er
schlug sie alle nieder und küsste die Milchmagd dann, als ich in Begleitung
meiner Tante und meiner Cousine vorüberging.«
»Tatsächlich, Großmama«, fügte Kit demütig
hinzu, wenngleich Lauren an seiner Stimme erkennen konnte, dass er sich
amüsierte, »hat die Milchmagd mich geküsst. Es wäre ungalant gewesen, auf hoher
Moral zu bestehen und
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