Dieser eine Moment (German Edition)
aus der Zeit. Eine Drehung auf der Stelle, ein schwungvolles Ausgleiten, ein Bein auf dem Eis, das andere waagrecht nach hinten ausgestreckt, die Arme ausgebreitet wie ein Turmspringer im Flug.
Jan ist seit Jahren nicht Schlittschuh gelaufen. Er stakst auf die Eisfläche, als balanciere er auf rohen Eiern. Keine zwei Schritte und er verliert das Gleichgewicht. Er rudert mit den Armen, versucht sich an der Bande festzuhalten. Seine Füße rutschen unter seinem Körper weg, er kann nichts dagegen tun. Er hat Glück, dass er nicht mit dem Kopf aufschlägt.
Mühsam rappelt er sich hoch. In Lauras Gesicht der Anflug eines Lächelns. Die Andeutung eines Verzeihens. Wenigstens das.
Lars rast auf ihn zu, zieht eine Grimasse, bremst erst im letzten Augenblick. Eis spritzt auf, fliegt Jan in die Augen, er greift sich ins Gesicht, droht erneut zu stürzen. Lars dreht sich lachend auf der Stelle und fängt ihn auf. Als wäre es nichts.
»Mit der Nummer könnten wir glatt im Zirkus auftreten«, sagt er und zwinkert Laura zu.
»Du vielleicht«, sagt Jan.
Später trinken sie Glühwein. Zwei Paare auf dem Weihnachtsmarkt, kaum wahrnehmbar im Gedränge zwischen den Buden.
»Lass stecken«, sagt Lars, als Jan bezahlen will. Er erzählt von seinen Regionalligaspielen und seinem Traum, irgendwann in der ersten Bundesliga aufzulaufen. Er ist sich völlig sicher, dass er das schaffen wird.
»Wenn du den Willen hast, dann klappt das auch«, sagt er und blättert dem Standbesitzer einen Zwanziger hin. »Stimmt so.«
Vier Glühweinbecher, die er locker mit den Händen umschließen kann. Die unglaubliche Leichtigkeit des Seins, für Zweifel kein Platz. Er erzählt von den versteckten Fouls der Verteidiger am Kreis. Wie sie einem die Ellenbogen in die Rippen rammen oder die Knie in die Oberschenkel. Wie sie versuchen, einen umzureißen.
»Handball ist Krieg«, sagt er.
»Müsstest ihn mal nackt sehen«, sagt Inkie zu Laura, »er sieht aus wie ein Streuselkuchen. Überall Prellungen und blaue Flecken.«
»Halb so wild«, sagt Lars und öffnet grinsend seine Jacke. Er zieht sein T-Shirt hoch, zeigt seine Kampfspuren, zählt seine Operationen auf: Handgelenkbruch, Kreuzbandriss, Schlüsselbeinfraktur. Als wären es Auszeichnungen.
Lächerlich, denkt Jan. Der Glühwein steigt ihm in den Kopf.
»Und du?«, fragt Lars.
»Was meinst du?«
»Noch nie was abgekriegt?«
»Bis jetzt nicht.«
»Verstehe«, sagt Lars, den Mund mitleidig verzogen. »Muss ja auch nicht.«
»Guckt mal, wie süß!«, sagt Inkie und deutet rüber zu einem Weihnachtsmann, der in einem samtbezogenen Sessel auf einem Holzpodest sitzt und sich mit kleinen Kindern fotografieren lässt.
»Da sind wir dabei«, sagt Lars und schiebt Inkie in die Schlange der Wartenden. Laura will den beiden folgen, Jan hält sie zurück.
»Ist doch albern«, sagt er. »Vollkommen bescheuert.«
»Du bist bescheuert«, sagt sie und macht sich los. »Merkst es nur nicht.«
Jan schaut auf seinen Glühwein. Er trinkt den Becher in einem Zug leer. Sein Kopf dreht sich, der ganze Weihnachtsmarkt dreht sich. Die Buden stehen auf dem Kopf. Genau wie Inkie und Lars, die sich auf den Sessellehnen niederlassen, den lachenden Weihnachtsmann in ihrer Mitte. Der Fotograf drückt auf den Auslöser.
»Jetzt ihr«, sagt Inkie.
»Er will nicht«, sagt Laura.
»Gibt’s doch nicht«, sagt Lars. »Mach schon, du Spaßbremse.«
Jan stellt ihn sich bei einem Regionalligaspiel vor. Die Halle ist ausverkauft. Ein gegnerischer Verteidiger rammt ihm unter dem Johlen der Zuschauer seinen Ellenbogen ins Gesicht. Seine aufgeplatzte Lippe, die hysterisch kreischende Inkie, ein ausgeschlagener Schneidezahn, der in Zeitlupe zu Boden trudelt.
Warum tue ich das?, denkt Jan, während er auf der Sessellehne Platz nimmt. Auf der anderen Seite des Weihnachtsmannes Laura, keinen Meter von ihm entfernt und weiter weg, als er sich je hätte vorstellen können.
»Schon mal was von Lachen gehört?«, fragt Lars. »Nur so als Tipp.«
Inkie kichert blöde.
Jan schaut in das Objektiv der Kamera. Der Weihnachtsmann legt seinen Arm um ihn. Der Geruch nach Mottenkugeln und Schweiß. Das kaum bezwingbare Verlangen, sich zu übergeben. Alles in ihm zieht sich zusammen ...
Eine Weihnachtsfeier im Kindergarten, er ist vier, vielleicht fünf Jahre alt, er weiß es nicht mehr genau. Der Raum ist brechend voll, die Luft stickig, die Fenster sind von der Hitze beschlagen. In der Mitte steht ein Stuhl, beklebt mit goldenen
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