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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Wortberg
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Sternen, ein Thron, um den die Kinder auf dem Fußboden sitzen, erwartungsvoll flüsternd, die Augen leuchtend, die Köpfe gerötet vor Aufregung.
    Dahinter, auf viel zu kleinen Kinderstühlen, die Eltern, Kameras in den verschwitzten Händen, bereit für den großen Moment. Auf den Tischen Schalen mit Spekulatius und Lebkuchen. Tannenzweige, die um brennende Adventskerzen drapiert sind.
    Jan schaut zu seiner Mutter rüber. Sie lächelt ihm zu. Er hat Angst. Ihr Lächeln macht sie unerreichbar. Er sucht mit den Augen seinen Vater, aber der ist nicht da.
    Irgendwo klingelt ein Glöckchen. Die Kindergärtnerin legt einen Finger an die Lippen. »Ich glaube, wir haben Besuch«, sagt sie und senkt ihre Stimme. »Was meint ihr, sollen wir ihn reinrufen?«
    »Ja«, schreien die Kinder wie aus einer Kehle und klatschen in die Hände. Jan klatscht nicht. Er sitzt einfach nur stumm da, ein Verurteilter, der auf seine Hinrichtung wartet.
    »Also«, sagt die Kindergärtnerin, »genau, wie wir geübt haben, eins, zwei, drei ...«
    »Weihnachtsmann, komm herein!«, rufen die Kinder.
    Jan hält sich die Ohren zu, in seinen Augen sammeln sich Tränen.
    Schwarze Stiefel, die beim Gehen knarren. Ein roter Mantel mit weißem Saum, der sich über einen dicken Bauch spannt, zusammengehalten von einem breiten Ledergürtel. Eine kreisrunde Brille über buschigen weißen Augenbrauen. Darunter ein schneeweißer Bart. Über der Schulter ein prall gefüllter Jutesack. Im Arm ein dickes Buch, in Goldfolie eingeschlagen. Auf dem Kopf eine rote Mütze mit weißem Besatz. Hände, die in weißen Handschuhen stecken.
    »Ho, ho, ho«, sagt der Weihnachtsmann dröhnend.
    Jan zuckt zusammen. Irgendetwas klingt falsch an dieser Stimme, aber er weiß nicht was. Seine Mutter winkt ihm zu und macht ein Foto. Ihr Winken kommt ihm vor wie ein Abschied. Das Blitzlicht hinterlässt einen blinden Fleck in seinen Augen. Die Kamera ist wie eine Pistole, mit der sie ihn erschießt.
    Der Weihnachtsmann wuchtet seinen Sack von der Schulter und setzt sich auf den leeren Stuhl in der Mitte des Raumes, die Hände auf seine Knie gestützt.
    »Hallo, Kinder«, sagt er.
    »Hallo, Weihnachtsmann«, rufen die Kinder.
    »Was glaubt ihr wohl, was da drin ist?«, fragt er und deutet auf den Sack neben sich.
    »Geschenke!«, rufen die Kinder.
    »Und für wen?«
    »Für uns.«
    »So, so, für euch. Aber wart ihr denn auch brav?«
    »Ja«, schreien die Kinder.
    »Hmmh«, brummt der Weihnachtsmann und schlägt sein Buch auf. »Da müssen wir aber erst mal nachsehen, ob das auch stimmt.«
    Die Kinder schauen ihn erwartungsvoll an. Die Eltern im Hintergrund schmunzeln.
    Der Weihnachtsmann fährt sich mit einer Hand durch den weißen Bart, lässt seinen Blick prüfend über die Kinder schweifen.
    »Wo haben wir denn den Jan?«, fragt er.
    Jan hat das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Hände, die sich um seinen Hals legen und zudrücken. Er würde am liebsten im Boden versinken.
    »Da!«, schreien die Kinder und zeigen mit den Fingern auf ihn.
    »Na, dann komm doch mal her zu mir«, sagt der Weihnachtsmann.
    Jan blickt Hilfe suchend zu seiner Mutter. Aber statt zu ihm zu kommen und ihn in den Arm zu nehmen, statt ihn zu schützen vor diesem grauenhaften, dicken Mann mit dem weißen Bart und dem grellroten Mantel, schaut sie ihn nur vorwurfsvoll an und bedeutet ihm, nach vorne zu gehen. Er kann sich nicht rühren, er ist steif vor Angst.
    »Willst du denn gar kein Geschenk?«, fragt der Weihnachtsmann.
    Jan schüttelt den Kopf.
    Schweigen legt sich über den Raum.
    »Na los!«, sagt seine Mutter in die Stille. Ihre Stimme ein Messer, mit dem sie auf ihn einsticht. Er kann ihr ansehen, wie peinlich ihr das alles ist.
    Auch wenn er erst vier ist oder fünf, er weiß, dass er keine Wahl hat. Also steht er auf und geht langsam rüber zu dem dickbauchigen Mann. Er stellt sich neben ihn, wagt nicht, ihn anzusehen.
    Der Weihnachtsmann schaut erneut in sein Buch. Handschriftliche Notizen, Urteile, eingeklebt zwischen die Originalseiten. Dann beginnt er vorzulesen. Zählt auf, was Jan alles falsch gemacht hat. Wie er die Wand seines Kinderzimmers mit Wachsmalstiften bekritzelt hat, wie er sich im Hallenbad nicht getraut hat, mit seinen Schwimmflügeln vom Einmeterbrett zu springen ...
    Einige der Kinder kichern, die Erwachsenen beginnen zu tuscheln, Jan schämt sich in Grund und Boden. Der Weihnachtsmann schaut ihn direkt an. Auf seiner Stirn unter dem Rand seiner Mütze stehen

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