Dieser eine Moment (German Edition)
ihren nackten Körper geschlungen, die lächerliche Kopie einer griechischen Göttin. Hinter ihr Lars, noch immer schweißnass, seine behaarten Arme auf ihrem Bauch.
»Geht ja voll ab bei euch«, sagt er mit einem spöttischen Lächeln im Gesicht.
15
Sie sitzt auf ihrem Bett, ganz ruhig. Sie wiegt die kleine Schachtel in ihrer Hand. Kein Gewicht. Stille, nur durchbrochen von vereinzelt vorbeifahrenden Autos.
In ihrem Kopf Erinnerungsfetzen an ein anderes Leben, unscharf und vage: das kleine Mädchen, das mit seinem Vater eine Almwiese herunterrollt; die Zwölfjährige, die im Duschraum einer Jugendherberge ihren ersten Kuss bekommt; die Austauschschülerin, die unter dem verschwitzten Körper eines jungen Australiers ihre Unschuld verliert.
Sie öffnet die Schachtel, zieht die Blister heraus. Es sind vier. Sie fährt mit den Fingern darüber. In jedem Blister acht Tabletten, zusammen zweiunddreißig. Sie beginnt, sie durch die Aluminiumfolie zu drücken, eine nach der anderen. Sie lässt sich Zeit, es gibt keinen Grund, sich zu beeilen.
Vor ein paar Tagen hat sie sich von ihrer Mutter zum Arzt fahren lassen. Sie leide an Schlaflosigkeit, ob er ihr nicht etwas verschreiben könne. Sein Misstrauen, das sie mit Mitleid besiegt. Sein Hinweis auf eine angemessene Dosierung, seine Warnung vor einem Zuviel, während er auf der Tastatur seines Computers den Namen des Medikamentes eingibt. Das Kratzen seines Füllers beim Unterschreiben des ausgedruckten Rezeptes. Sein zurückhaltender Händedruck, als sie das Sprechzimmer verlässt.
Vom Empfangstresen her die durchdringende Stimme ihrer Mutter, die vor der Sprechstundenhilfe das Schicksal ihrer Tochter ausbreitet, als wäre es ihr eigenes.
»Können wir gehen, Mama?«
»Was hat er gesagt?«
»Alles in Ordnung.«
»Er hat dir nichts verschrieben?«
»Nein.«
»Vielleicht sollte ich noch mal mit ihm reden.«
»Das ist wirklich nicht nötig.«
»Warum bist du immer so störrisch?«
»Warum mischst du dich immer ein?«
»Irgendjemand muss dir doch helfen.«
Catrin streicht mit den Fingern über das zusammengefaltete Rezept in ihrer Tasche: Die Einzige, die ihr helfen kann, ist sie selbst ...
Sie legt die Tabletten auf den Nachttisch, eine neben die andere, lässt sie unter ihrer ausgestreckten Hand hin und her rollen, eine Straße aus Tabletten, eine Brücke in eine andere Welt ...
Ihr letzter Tag in der Rehaklinik. Das Prasseln der Regentropfen gegen das Fenster, unablässig und laut. Sie hat es gehasst, hier zu sein, jetzt hasst sie es wegzumüssen.
»Sie haben in sehr kurzer Zeit sehr viel erreicht«, sagt die Therapeutin.
»Nicht genug«, sagt Catrin.
»Seien Sie geduldig, überfordern Sie sich nicht. Das hier war erst der Anfang.«
Der Anfang von was?, denkt Catrin.
»Sie werden in ein tiefes Loch fallen. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber bald.«
»Warum sagen Sie mir das?«
»Damit Sie gewarnt sind.«
»Danke für alles«, sagt Catrin.
»Machen Sie’s gut«, sagt die Therapeutin.
Die ersten Wochen in der neuen alten Umgebung, das Unbekannte im Bekannten. Die Eingewöhnung an der Universität, die ersten Vorlesungen, der Umgang mit ihrem neuen Computer. Sie lebt von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Kein Raum zum Nachdenken. Bis sich Gewöhnung breitmacht und die Angst zurückkehrt, ein lauernder Schatten in ihrem Rücken, immer spürbar, immer da. Als sie nach dem Unfall im Krankenhaus aufwachte, hatte sie keinerlei Vorstellung davon, was es bedeuten würde, blind zu sein. Jetzt weiß sie es. Ein dauerndes Angewiesensein, die ewige Abhängigkeit von der Fürsorge ihrer Eltern, ein ständiges Bitte oder Danke auf den Lippen. Sie hat den Glauben an ihre Zukunft verloren. Und mit ihm ihre Träume.
Der Weg zur Apotheke. Bekanntes Terrain. Das Abrufen einer abgespeicherten Matrix aus Schritten und Geräuschen. Doch dann verläuft sie sich. Ein falsches Abbiegen, das Überschreiten einer unsichtbaren Grenze. Unbekannte Geräusche, eine fremde Straße. Jeder Schritt ein bildloses Vorantasten ins Ungewisse. Bis sie schließlich einen vorbeikommenden Passanten anspricht, der sie zurückführt in die Welt, die sie kennt.
Ihr Zögern, der Apothekerin das Rezept zu überreichen. Die Sorge, dass sie Fragen stellen könnte. Aber nichts dergleichen geschieht. Sie hört, wie die Apothekerin nach hinten geht, eine der Schubladen aufzieht, die ersehnte Schachtel herausnimmt und sie vor sie auf den Tresen legt. Sie hört ihr eigenes Herz schlagen
Weitere Kostenlose Bücher