Dieser graue Geist
weiter. Das waren Überreste einer Stadt – so weit draußen! Verwitterte Skelette hunderter Yrythny lagen unter eingestürzten Mauern und in verkeilten Fensterrahmen. Ruine folgte auf Ruine, und die Bilder blieben gleich: Zerstörung, wie Ezri sie von weitaus weniger entwickelten Welten kannte. Welten, die meist noch mit fossilen Brennstoffen und Nuklearenergie hantierten und Warp nicht kannten. Was war hier geschehen? Eine nukleare Explosion? Sie aktivierte ihre Sensoren. Während sie auf das Ergebnis wartete, bat sie Jeshoh um eine Erklärung.
»Sie befinden sich bei den Resten des Hauses Tin-Mal, einem vierhundert Jahre alten sozialen Experiment« , gab er Auskunft. »Lieutenant, wir sind nicht so engstirnig elitär, wie Sie vielleicht denken. Im Fall von Tin-Mal erwiesen sich meine Vorfahren sogar als sehr progressiv.«
»Dies war eine Wanderer-Stadt, oder?«
Jeshoh hob ein vielleicht tablettgroßes Wandstück vom Meeresboden und reichte es ihr. Unter dem Sand kamen Piktogramme zum Vorschein, und während Ezri die behandschuhte Hand über die Bilder gleiten ließ, stellte sie sich vor, die dazugehörige Geschichte im Geiste zu hören.
»Ihr Übersetzungsprogramm wird es bestätigen: Dieses Segment schildert, wie sich das Haus Tin-Mal vor dem Fès-Riff aus dem Meer erhob – ein mit Türmen und Kuppeln verzierter Beweis dafür, wie falsch es von uns Hausstämmigen sei, unsere Brüder zu unterdrücken. Und die hiesigen Wanderer wurden mehr. Sie bauten weitere Plattformen, sorgten für Fortschritt im Bereich der Wasserwirtschaft.«
Auf dem Meeresboden machte Ezri die Umrisse verrosteter Maschinenteile, Waffen, Werkzeuge und primitiver Energiekammern aus, und ihr schien, als weise das Design die gleiche Originalität auf, wie sie in Luthia vorherrschte. Die Wanderer schienen sich nicht damit zufriedenzugeben, Dinge zum Laufen zu bringen; sie achteten auch auf Äußerlichkeiten. Obwohl Ezri ihre Kreativität bewunderte, ahnte sie, dass in ihr die Wurzel der Zerstörung ruhte, die sie hier überall umgab. »Sie fügten sich das selbst zu.« Eine Feststellung, keine Frage.
»Aus Mangel an Sorgfalt. Aus Arroganz. Aus Dummheit. Suchen Sie sich einen Begriff aus. Trotz ihrer intellektuellen Größe fanden die Wanderer, ihr Energiesystem sei nicht adäquat genug. Sie begannen, ihre Infrastruktur mit nicht kompatiblen technischen Verbesserungen zu kombinieren. Es kam zu einem Unfall, einer Explosion, und alles im Umkreis von tausend Kilometern wurde verstrahlt und zerstört. Wollen Sie wissen, wie viele Schlüpflinge, Fische und Pflanzen dabei umkamen? Alle. Bis heute, ein halbes Jahrtausend später, leidet der Ozean unter den Folgen.«
Die Trauer in seinem Tonfall rührte Ezri. Sie wünschte, sie könnte ihn trösten. Seit sie mit Jeshoh arbeitete, hatte sie in seinen Taten und Worten die Liebe gespiegelt gefunden, die er für seine Welt empfand. Er glaubte an das Morgen, an eine neue Ära für Vanìmel und wurde doch von den Folgen vergangener Fehler gebremst. Dax verstand ihn nur zu gut. Erinnerungen stiegen in ihr auf, an Lenara und Worf. Aber wer zu oft ans Vergangene dachte, dem konnte es zur unlösbaren Fessel werden, das wusste sie. Die Zeit lief weiter, Umstände und Technologien entwickelten sich. So furchtbar das Experiment Tin-Mal war, Vanìmel hatte sich weiterentwickelt. Und die Yrythny mit ihm. Vielleicht war der Moment gekommen, diesem Kapitel eine zweite Chance zu geben.
Jeshoh wusste und glaubte, wovon er sprach. Daran bestand kein Zweifel. Aber Ezri hatte zu viele Leben durchlebt, um nicht zu wissen, dass es immer mehrere Sichtweisen gab. Übertrug man einem Kind die Aufgaben eines Erwachsenen, erledigte es sie auf kindliche Weise. In Ezris Vorstellung waren die Wanderer hier mit jugendlichem Übermut und Idealismus statt mit praktischer Expertise zu Werke gegangen. Das Haus Tin-Mal war dem Untergang geweiht gewesen, bevor der erste Torbogen errichtet war. Nur: Wie sollte sie das Jeshoh erklären? Audrid hatte stets die richtigen Worte gefunden, aber sie? Bevor sie weitersprach, ließ Ezri sich von Audrids sicherer Natur durchströmen. »Auch wenn das Ergebnis für sich spricht, kann ich nicht umhin, mich zu fragen, ob es anders aussähe, wenn diese Wanderer mit den gleichen Chancen und Erfahrungen wie die Hausstämmigen aufgewachsen wären. Konnte man ihnen nicht beibringen, vorsichtig zu sein?«
»Und wie viele Fehler würden sie wohl während dieses Unterrichts begehen?« , hielt er dagegen.
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