Dieser graue Geist
aus dem Haus Fnorol in der östlichen See. Noch vor zwanzig Jahren entledigten sich unsere Ältesten aller erwachsen gewordenen Wandererweibchen, damit sie sich nicht ihren ‚überlegeneren‘ Schwestern in den Laichgewässern anschlossen, und hielten dieses Vorgehen für völlig rechtens. Diejenigen, die nicht getötet wurden, starben von selbst. Glaubt ihr wirklich, unser hochgeschätzter Versammlungsrat wird den Fremden diesen Aspekt unserer Geschichte offenlegen?« Er setzte sich.
»Was ist mit den Feuern? Sie kamen durch unsere Dörfer und brannten sie nieder.«
»Unsere Jungen verhungerten …«
»… mit Stöcken erschlagen, sobald sie sich als Wanderernachwuchs herausstellten …«
Ein Anwesender nach dem anderen stand auf und legte nüchtern Zeugnis von unsäglichen Gräueln ab. Shar konnte das Ausmaß ihrer Leiden – ihrer Historie – kaum fassen und hatte Mühe, die Informationen gedanklich zu verarbeiten. Wieder und wieder suchte er in sich nach etwas, das ihm half, den Frevel zu begreifen.
»Wir dürfen den Fremden das Wissen um diese an uns begangenen Taten nicht selbst offenbaren«, sagte der Leiter des Treffens. »Die Obere Versammlung würde es bloß als Geschwätz einer militanten Minderheit abtun. Denn auch wenn wir auf Raumschiffen dienen, dürfen wir weder Waffen führen, noch uns verteidigen. Und die Hungersnöte, die Unterdrückung – in der Dunklen Zeit sogar Sklaverei … All das wird noch schwerer zu vermitteln sein.«
Mehrere Schritte von Shar entfernt sprang ein Yrythny auf und eilte zitternd vor Anspannung nach vorn. »Lasst uns die Fremden vergessen. Sie sind irrelevant. Wenn die Barrikaden der Cheka nicht bald fallen, steht uns eine neue Dunkle Zeit bevor. Seid gewiss: Die Hausstämmigen werden nicht zögern, uns verhungern zu lassen, wenn es ihnen hilft.«
»Oder sie töten uns«, stimmte jemand zu. »Treiben uns zusammen und metzeln uns nieder, damit unsere hungrigen Münder den ihren nicht die Nahrung rauben.«
Dieser Kommentar führte zu allerhand Gewisper, bis der Anführer ein Zepter gegen sein Rednerpult schlug. »Genug! Wir haben Augen und Ohren an vielen Orten. Wenn sie Massenmord planen, werden wir davon erfahren. Doch wenn wir nicht aufpassen, lassen die Hausstämmigen diese Fremden schon morgen über uns entscheiden.«
Keren regte sich. Shar war nicht überrascht, als sie aufstand, sich einen Weg durch die Menge bahnte und, vorne angekommen, die Kapuze zurückschlug. Von überall erklang überraschtes Keuchen.
»Ich mache keinen Hehl aus meiner Anwesenheit. Ihr wisst, ich gehöre zu euch.« Sie sprach ruhig, sachlich. »Und ich glaube, die Fremden werden uns nützen. Seit den Archipelkriegen plagen wir uns darum, den Hausstämmigen mehr Rechte abzugewinnen, und sind nach wie vor weit von einer Gleichberechtigung entfernt.« Einen Moment lang blickte sie zu Boden. Dann sah sie die Anwesenden an, Reihe um Reihe, suchte den direkten Kontakt zu ihren Zuhörern. »Meine Zeit naht, in die Wasser zu gehen. Doch weil ich eine der Wanderer bin, wird mir die Gelegenheit dazu verweigert, wenn in fünfzehn Tagen die Heimkehr ansteht. Stattdessen muss ich mich den Heilern offenbaren, meine Injektion erhalten und mein Leben fortsetzen, als verspürte ich nie den Drang oder den Wunsch, die Wasser zu durchschwimmen.« In Kerens Stimme klang große Trauer mit. »Es wird ein Leben der Lüge sein. Denn auch ich verdiene es, mir einen Gefährten zu nehmen. Zur nächsten Generation beizutragen. Ich glaube, unser Kontakt mit den Fremden wird mir … wird uns dies möglich machen. Und vieles mehr.«
»Woher willst du wissen, ob wir ihnen trauen können?«, fragte der Anführer.
Keren trat hinter das Rednerpult, legte die Arme darauf und ließ den Blick über die Menge gleiten. »Weil ich sie traf. Sie entstammen nicht einmal diesem Teil der Galaxis. Sie leben zehntausende Lichtjahre entfernt, wissen nichts von unserer Geschichte. Sie sind unabhängig. Wer von denen, mit denen wir Handel betreiben und Wissen tauschen, kann das von sich behaupten? Niemand.« Schließlich sah sie zu Shar, der ihren Blick erwiderte. »Wer weiß schon, ob der Andere sie zu uns brachte? Wir leben fraglos in gefährlichen Zeiten. Aufgrund der Blockaden könnten sich nach Jahrhunderten des Friedens bald Hausstämmige gegen Wanderer richten. Uns fehlen die Waffen und die Ressourcen für diesen Kampf, und doch treiben wir auf dem Strom des Schicksals mit. Diese Fremden sind vielleicht unsere letzte
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