Dieser Mann ist leider tot
Öffentlichkeit ging.
Gott sei Dank, dachte Langland. Gott sei Dank für kleine Gnaden.
23 Lia saß in ihrer Praxis und wartete auf Grace Rinehart. Es war Mittwoch, und nachdem Cal endlich in Von Braunville angelangt war, erwartete sie – beinahe freudig – den Laufplan, den ihre am wenigsten berechenbare Klientin heute in die Tat umzusetzen suchen würde. Ein Mittagessen im ›In Clover‹ in La-Grange? Eine Fahrt durch den Roosevelt State Park? Noch ein Besuch im FAZ in Fort Benning?
Nachdenklich und ungeduldig drückte Lia auf den Sprechknopf. »Ist sie noch nicht hier, Shawanda?«
»Nein, Ma’am«, antwortete Shawanda Bledsoes Stimme.
»Sie hat schon vierzig Minuten Verspätung. Wenn sie nicht bald kommt, können wir beide ebensogut nach Hause fahren. Wir haben sonst niemanden mehr.«
»Soll ich bei ihr zu Hause anrufen?«
»Ja, warum nicht? Ich wüßte gern, was los ist.«
Lia hantierte mit ihren Notizen. Dann summte das Sprechgerät, und Shawanda sagte: »Ich hab hier ’n Mann, Dr. Bonner. Sagt, Grace Rinehart ist ›außerstande, ans Telephon zu kommen‹.«
»Kommt sie denn heute noch? Hat er dir das gesagt?«
»Hat er nicht gesagt, der Mann. Sagt, sie ist auf unbegrenzte Zeit ›indisponibel‹, was immer das nun wieder heißt.«
»Oh. Großartig.«
»Sagt aber, Ihr Honorar kommt trotzdem. Das ist doch gut.«
»Ja, vermutlich.« Aber Lia sehnte sich nach einer Ablenkung von dem profanen Papierkram und von Cals außerirdischer Mission ebenso wie nach einem garantierten Einkommen. Mit Grace Rinehart als Gönnerin und mit Cals Job auf Berthelot Acres ging es ihnen finanziell besser als in ihrem besten Jahr in Colorado. Unglücklicherweise aber gab es da einen Diebstahl, einen Mord und einen Erpressungsversuch – unmittelbar auf Miss Grace und ihren Mann zurückzuführen –, die weiterhin schwärten, und Lia hatte oft das Gefühl, daß sie auf den Knien rutschte – verflucht – im Staube kroch –, wenn sie eine Sitzung mit der Schauspielerin abhielt.
Shawanda summte. »Hab ’n Anruf für Sie, Ma’am. Sprechen Sie auf Leitung zwei mit Missus Phoebe Flack?«
»Phoebe Flack? Die Zimmergefährtin ihrer Mutter im Eleanor-Roosevelt-Pflegeheim? Was, um alles in der Welt, wollte die denn?«
»Hallo«, sagte Lia.
Phoebe Flacks quengelnde Stimme sagte: »Dr. Lia, ich bin’s, die Freundin Ihrer Mama.« Sie nannte ihren Namen und erinnerte Lia an alles, was sie für Miss Emily während ihres Aufenthaltes im Heim getan habe. Zweifelnd fragte sie sich laut, ob die ›vielbeschäftigte Ärztin‹ vielleicht für ein paar Minuten vorbeikommen könne.
»Ich habe Sprechstunde, Phoebe. Ich arbeite.« Oder ich würde arbeiten, dachte Lia, wenn meine königinhafte Klientin noch käme.
»Na, dann eben, wenn Sie können«, winselte die Frau.
»Aber worum geht es denn, Phoebe?« Womöglich war das arme alte Mädchen natürlich bloß einsam. Aber Lia wollte über diese Möglichkeit nicht nachdenken, denn ein schlechtes Gewissen – ein völlig zu Recht schlechtes Gewissen – würde sie veranlassen, etwas zu unternehmen, um Phoebes Einsamkeit zu lindern.
»Ich habe etwas für Sie. Dachte mir, ich sollte es nicht in die Post geben. Es ist zu wertvoll für die Post.«
Was konnte Phoebe Flack für sie haben? überlegte Lia. Vor allem, wenn es wertvoll war. Wahrscheinlich ein Photo, oder ein Tagebuch, oder ein verirrtes Familien-Erinnerungsstück. Ansonsten ergab ihr Anruf keinen Sinn. Wenn sie auch Zimmergenossinnen gewesen waren, so hatten Phoebe und ihre Mama einander doch nie nahegestanden; ›Freundinnen‹ waren sie nur, wenn dieses Wort ›verklärte Bekannte‹ bedeutete.
Unverzüglich beschloß Lia, Phoebe zu besuchen. »Ich bin gleich drüben«, sagte sie. Sollte Grace Rinehart, falls sie aufhörte, ›indisponibel‹ zu sein, ruhig im Wartezimmer sitzen, bis sie schwarz würde.
Also legte Lia auf und ging zu Fuß von ihrer Praxis in der Main Street zum Pflegeheim. Phoebe Flack parkte mit ihrem Rollstuhl in der Lobby, raubtierhaft dicht vor den Glastüren. Lia gab ihr einen Kuß auf die Wange und schob sie durch einen der nach Lysol duftenden Korridore zu ihrem Zimmer, das sie jetzt mit einer Frau teilte, deren Haut aussah, als sei sie aus lackiertem Zellstoff. Die beiden Frauen nahmen einander nicht zur Kenntnis, und auch Lia gelang es nicht, der Drigami-Fürstenwitwe im Nachbarbett einen Gruß abzuringen.
»Was ist denn, Phoebe? Was sollte ich denn hier abholen?«
»Nur dies, Dr. Lia.«
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