Dieser Mann macht mich verrückt
ihr fotografiert worden waren - eine Tanzlehrerin, eine schlampige Wohngenossin, und all die Männer, die sie enttäuscht hatten.
»Mögen Sie denn niemanden ?«, fragte Blue eines Samstagmorgens frustriert, während sie im weißgoldenen Wohnzimmer saßen, von Fotoalben umringt.
»Früher mochte ich sie alle«, entgegnete Nita und blätterte mit einem knotigen Finger eine Seite um. »Ich war so naiv. Und ich hatte keine Ahnung von der wahren menschlichen Natur.«
Obwohl Blues Ungeduld wuchs, weil sie die Arbeit an dem Porträt nicht beginnen konnte, faszinierte sie Nitas Lebensweg von der Teenagerzeit in Brooklyn während des Kriegs bis zu den oft erwähnten Fünfziger- und frühen Sechziger jähren, in denen sie Tanzunterricht gegeben hatte. Für kurze Zeit war sie mit einem Schauspieler verheiratet gewesen, den sie »Trinker« nannte, hatte Kosmetika verkauft, als Model auf Handelsmessen und als Garderobiere in diversen exklusiven New Yorker Restaurants gearbeitet.
In den frühen Siebzigerjahren hatte sie Marshall Garrison kennen gelernt und geheiratet. Ein Hochzeitsfoto zeigte eine wohlgeformte Frau mit hochgetürmtem platinblondem Haar, farbenfrohem Augen-Make-up und hellrosa Lippen. Anbetend blickte sie zu einem distinguierten älteren Mann in einem weißen Anzug auf. Ihre Hüften waren schlank, die Beine lang, und sie besaß eine straffe, faltenlose Haut. Genau der Frauentyp, der den Männern die Köpfe verdrehte. »Er dachte, ich wäre zweiunddreißig«, erklärte Nita, »er selbst war fünfzig. In Wirklichkeit war ich vierzig, und ich hatte schreckliche Angst, was er tun würde, wenn er die Wahrheit herausgefunden hätte. Aber er war verrückt nach mir, es interessierte ihn gar nicht.«
»Auf diesem Bild sehen Sie so glücklich aus, Nita. Was ist dann geschehen?«
»Ich kam nach Garrison.«
Während Blue in dem Album blätterte, beobachtete sie, wie Nitas freundliches Lächeln allmählich zu einer verbitterten Grimasse überging. »Wann wurde dieses Foto aufgenommen?«
»Oh, das war unsere Weihnachtsparty im zweiten Jahr unserer Ehe. Inzwischen hatte ich die Illusion verloren, ich könnte die Liebe aller Menschen gewinnen.«
Deutlich genug zeigten die angewiderten Mienen der weiblichen Partygäste, was sie von dem dreisten Eindringling aus Brooklyn hielten, von dieser Abenteurerin mit den großen Ohrringen, die einen viel zu kurzen Rock trug und den begehrenswertesten Junggesellen von Garrison eingefangen hatte. Auf der nächsten Seite sah Blue ein Foto von Nita, die ganz allein auf einer Gartenparty herumstand, die Lippen zu einem starren Lächeln verzogen.
»Ihr Mann war sehr attraktiv«, meinte Blue und zeigte auf ein Porträt von Marshall.
»Das wusste er auch.«
»Mochten Sie nicht einmal ihn?«
»Als ich seine Frau wurde, hielt ich ihn für einen Mann mit starkem Rückgrat.«
»Das haben Sie wahrscheinlich gebrochen und sein Blut ausgesaugt.«
Verächtlich kräuselte Nita die Lippen und saugte an ihren Zähnen - ihrer Lieblingsmethode, um Missbilligung auszudrücken. Dieses unangenehme schmatzende Geräusch irritierte Blue immer wieder.
»Holen Sie meine Lupe«, forderte Nita. »Ich will feststellen, ob auf diesem Bild Bertie Johnsons Leberfleck zu sehen ist. Nie habe ich eine hässlichere Frau gekannt. Ausgerechnet sie war so dreist, meine Garderobe zu kritisieren. Allen Leuten erzählte sie, ich würde mich zu protzig anziehen. Das habe ich ihr heimgezahlt.«
»Mit einem Messer oder einem Revolver?«
Schmatz. Schmatz. »Als ihr Mann seinen Job verlor. Das gefiel dieser aufgeblasenen Person ganz und gar nicht. Als ich sie zwang, die Toilettendeckel zwei Mal zu putzen, flippte sie fast aus.«
Nur zu gut konnte Blue sich vorstellen, wie Nita die bedauernswerte Bertie Johnson gequält hatte. Genauso wie mich seit vier Tagen.
Nita bestand auf selbst gebackenen Keksen, befahl ihr ständig, hinter Tango herzuwischen, und beauftragte sie sogar, eine Putzfrau zu engagieren - eine problematische Aufgabe, weil niemand in diesem Haus arbeiten wollte.
Entschlossen klappte Blue das Album zu. »Jetzt habe ich genug gesehen, ich kann zu malen anfangen. Meine Skizzen sind fertig. Wenn Sie mich heute Nachmittag allein lassen, werde ich sicher Fortschritte machen.«
Nita wollte nicht nur ihr eigenes Ebenbild auf dem Porträt sehen - sie entschied sich auch für ein größeres Format, weil es im Foyer hängen sollte. Also hatte Blue eine entsprechende Leinwand bestellt und ihr Honorar erhöht. Bald
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