Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
meiner Herkunft. Ich komme aus einer stockkonservativen Familie, mein Vater hat im Zweiten Weltkrieg gedient, meine Mutter hat uns irgendwie durchgebracht. Als mein Vater aus dem Krieg nach Hause kam, kauften wir einen Hof in einem kleinen Dorf in der Schwäbischen Alb. Meine Eltern haben hohe moralische Ansprüche an mich und meinen Bruder gestellt. Dorfschule, in der es noch Schläge gab, wenn man die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, Dorfk irc he mit dem dazugehörigen Pflichtprogramm, der Dorfpfarrer kam nach Hause, um meinem Vater bei dessen Tadelungen zur Seite zu stehen, wenn irgendetwas war. Wenn mein Bruder Matth ia s und ich uns wieder nicht wohl verhalten hatten. Das Urteil der Nachbarn war meinen Eltern enorm wichtig. Was sollen die Nachbarn sagen, wenn sie hören, dass wir so problematische Kinder sind? Kinder, die nicht regelmäßig ihre Pflichten zu Ha us e erfüllen, Kinder, die Kirschen klauen, die nicht wissen, was es heißt, im Krieg gewesen zu sein. Und so weiter.
Wie hätte ich da je zu meinen Gefühlen stehen können, wenn schon Gefühle an sich verboten waren. Obwohl ich schon damals merkte, dass ich nicht wirklich auf Frauen stehe und mich eher von meinen Kollegen an der Fachhochschule angezogen fühlte, habe ich mit Mitte zwanzig geheiratet. Eine Frau natürlich. In unserer Dorfkirche, weil sie nicht in ihrer Heimat die Ehe schließen wollte. Auf keinem einzigen Foto sehe ich glücklich aus– aber es hat sich eh nie jemand gefragt, warum. Noch nicht einmal meine Frau Heike. Erstaunlich, wie viel Platz es für meine seelische Zwangsjacke in all den Jahren in dieser Ehe gab. Nach der Heirat zogen wir nach Kassel, ich arbeitete als Sachverständiger in einer Versicherung.
Erst habe ich abgewartet, bis meine Eltern starben, dann habe ich abgewartet, bis Heike starb. Über dreißig Jahre. Jetzt lebe ich mit Martin, den ich beruflich kennengelernt habe. Ein Unfall hat uns zusammengebracht. Er war mit seinem kleinen Boot » Herkules« auf der Fulda auf eine Sandbank aufgelaufen, der Rumpf hatte Leck geschlagen. Ich sollte prüfen, ob es Versicherungsbetrug war.
Ich hätte früher mein Leben leben sollen. Aber so einfach, wie man das dahersagt, so einfach ist es nicht. Ich konnte es nicht.
Peter Liebmann, 73 Jahre, Knochenkrebs
verstorben im Juni 201*
Eigentlich habe ich ein Gelegenheitsleben geführt , während ich auf das richtige Leben ge wa rtet habe
Mein Leben lang habe ich immer gewartet. Gewartet auf den richtigen Mann, auf die richtigen Freunde, auf den richtigen Job. Also im übertragenen Sinne könnte man sagen, dass ich darauf gewartet habe, dass die Sonne rauskommt. Denn es heißt doch immer, dass man nur warten müsse, dann käme alles von selber. Das haben meine Eltern zu mir gesagt, schon als ich ein Kind war.
Bei mir kam aber nichts von selber. A lles, was dann stattfand in meinem Leben – und das war nicht viel –, ging auf meine Initiative zurück. Es war aber nie der Plan. Ich habe immer alles laufen lassen, weil ich ja gewartet habe, dass das Richtige von alleine zu mir kommt. Nach meiner Ausbildung zur Friseurin hatte ich mir keine Mühe gegeben, von dem dortigen Betrieb übernommen zu werden. Dazu waren mir die Kolleginnen auch viel zu zickig, als dass ich da gerne geblieben wäre. Also wurde ich auch nicht übernommen. Auf Stellenanzeigen in der Zeitung habe ich mich auch nicht beworben, also bekam ich auch keine Anstellung. Du musst aber doch irgendetwas machen, sagten meine Bekannten immer. Nein, muss ich nicht. Ich warte, bis etwas auf mich zukommt, habe ich dann zurückgegeben.
Während dieser Warteschleifenjahre habe ich unzählige Zusatzausbildungen und Jobs gemacht. Im Auftrag der Stadt habe ich Parkuhren ausgeleert, Waffeln im Stadtpark verkauft, auf Messen die Standreinigung erledigt, im Callcenter Beschwerdeanrufe entgegengenommen, in einem Immobilienbüro die Kaffeeküche sauber gehalten und in Hotels frische Blumen aufgestellt. So Gelegenheitsjobs halt. Eigentlich habe ich ein Gelegenheitsleben geführt, während ich auf das richtige Leben gewartet habe. Gelegenheiten, einen Liebespartner zu finden, habe ich ungenutzt gelassen. Blicke nicht erwidert, Anrufe nicht beantwortet. Weil mir mein Gefühl gesagt hat, dass ich noch warten sollte.
Im Rückblick betrachtet war es natürlich nicht richtig, ständig zu warten. Man muss schon seinen Hintern hochkriegen, wenn man das Leben halbwegs bewältigen will. Sonst geht man ein wie eine Primel. Das ist mit mir
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