Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
gestorben war, habe ich mich an ihren Sarg gestellt und gesagt: Na, Maria, jetzt bist du hier. Vielleicht bin ich’s das nächste Mal, wir werden schon alle zusammenkommen.
Bei meiner Beerdigung sollte die Kirche festlich geschmückt sein, mit vielen weißen Blumen. Ein feierlicher Gesang wäre auch schön. Meine Nichte wird das Ave Maria singen, ich habe ihr sogar schon das Geld dafür gegeben. Begraben werde ich bei meinem Mann werden. Auf seinem Grab ist auch ein Foto von unserer Tochter angebracht. Dann sind wir drei wieder vereint, daheim im Himmel, in der Ewigkeit.
Gerlinde Barthor, 81 Jahre
Kurioserweise hänge ich am meisten im Leben an diesem undefinierbaren Ich
Ich frage mich oft, warum mir ein Schicksal in Qual beschieden ist. Was soll das? Ist das Zufall oder steckt irgendein Sinn dahinter? Ich würde gerne glauben, dass es meine Lebensaufgabe ist, diese Schmerzen durchzustehen, und ich hinterher die Antwort kriege: Du musstest das alles durchmachen, um… was auch immer, keine Ahnung. Aber ich habe keine Religion. Im Moment kann ich mir eher vorstellen, mir das Leben zu nehmen. Wenn der Schmerz im Kopf so groß ist, dass es schwer auszuhalten ist. Oder der Horror im Bauch. Mit Worten kann man das nicht beschreiben, ich kann nur sagen, das ist Folter, Angst vor Gewalt in jeglicher Form.
In meiner Kindheit gab es wie bei anderen auch viele traumatische Situationen, mit denen man später hätte lernen können umzugehen. Schläge, mein Vater war ein Stasi-Offizier, der gerne geschlagen hat, Demütigung und Liebesentzug. Aber die akute Traumatisierung, die mich hilflos und ohnmächtig gemacht hat, waren die Medikamente, die ich als Zehnjähriger bekommen habe. Um meine Bettnässe und Hyperaktivität zu bremsen, musste ich jeden Abend eine gelbe Pille schlucken. Doch dadurch wurde ich nur noch ängstlicher, und meine Eltern schimpften mich einen Versager, weil die Tabletten nicht wirkten.
Die Medikamente waren wahrscheinlich überdosiert, jedenfalls bin ich seitdem eigentlich ein körperliches Wrack. Vor Kurzem wurde ich von einer achtundfünfzigjährigen Frau auf das gleiche Alter geschätzt, dabei bin ich dreiundvierzig. Vom Körper her fühle ich mich oft wie neunzig, von der Seele her manchmal wie ein kleines Kind, das nach Leben und Glück hungert, und dann gibt es wieder eine Seite an mir, die sagt, du bist uralt, du hast doch alles gesehen. Aber das Glück habe ich zum Beispiel nicht gesehen.
Glück würde für mich schon pure Symptomfreiheit bedeuten, also keine Schmerzen und Ängste zu haben. Das Problem ist, dass ich schon alles an therapeutischen und pharmakologischen Möglichkeiten ausprobiert habe, aber gescheitert bin. Die Medikamente, die normalerweise gegen Angstzustände wirken, haben bei mir zur Folge, dass ich unerträgliche Schmerzen bekomme. Und das kann nur darauf zurückzuführen sein, dass ich früher mit irgend so einer Substanz traumatisiert wurde. Wut gegen meine Eltern empfinde ich deswegen nicht mehr, ich weiß nur, was menschliche Grausamkeit anrichten kann. Was ich im Moment versuche, ist Selbstsuggestion, ich gestatte dem Medikament, mir zu helfen.
Eine Vorstellung von Glück als Gefühl habe ich nicht, darum kann ich es nicht beschreiben. Spaß kenne ich. Mitte der Neunzigerjahre schmiss ich mich in den Berliner Underground. Ich hatte einen großen Bekanntenkreis und habe viel Party gemacht, das half mir, den Alltag zu überleben. Ich wurde sexsüchtig, viele Jahre lang hielt ich mich an Frauen fest, ohne mich emotional auf eine Beziehung einzulassen. Auch das war mir für eine gewisse Zeit eine Art Stütze. Ich hielt mich mit allen möglichen Jobs über Wasser und kündigte einen nach dem anderen. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, bis mein Körper keine Kraft mehr hatte.
Wenn ich nebenher als Sänger mit meiner Band auf der Bühne stand, habe ich immer gespürt, dass mir das Singen nicht wirklich was brachte, es heilte nicht. Auf der einen Seite hatte ich immer davon geträumt, auf einer großen Bühne zu stehen, und auf der anderen Seite wusste ich, ich habe so viele Ängs t e, dass ich kaum mein Haus verlassen und in eine U-Bahn steigen kann. Der Widerspruch zwischen Traum und Realität.
Bei meinem ersten Selbstmordversuch hatte ich mir auf irgendwelchen Wegen eine Pistole besorgt. Doch das Ding hat schlichtweg nicht funktioniert. Als ich abdrückte, ist nischt passiert, ich fühlte mich als Versager.
Paradoxerweise habe ich Angst vor dem Tod, vor einem qualvollen
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