Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
habe nämlich viele gute Freunde. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, meine Mutter hat ihren Vater auch nie kennengelernt und meine Großmutter auch nicht. Erstaunlich, oder? Das zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Familie. Vielleicht war ich deswegen auch nie daran interessiert, zu heiraten oder selber Kinder zu haben. Brauche ich auch nicht, ich habe wie gesagt viele Freunde. Und die Frauen, die kommen und gehen am Tresen vorbei, da hab ich nie was anbrennen lassen. Und immer, wenn die dann gemerkt haben, dass ich mich nicht binden will, sind sie von alleine wieder gegangen. Das ist also immer unkompliziert gelaufen.
Das Einzige, womit ich immer wieder gehadert habe, ist die Frage, ob es damals die richtige Entscheidung war, die Kneipe zu übernehmen. Ich hätte sie doch auch verkaufen können und meiner Leidenschaft als Schlosser nachgehen können. Vielleicht hätte ich es irgendwann zum Meister gebracht– nein, nicht vielleicht, sondern ganz sicher. Und dann wäre ich ins Ausland gegangen, um dort meinen Horizont zu erweitern. Hätte noch eine Ausbildung obendrauf gesetzt, vielleicht sogar Maschinenbau studiert, wäre Ingenieur geworden. Hätte es irgendwo zum Abteilungsleiter gebracht oder zum Chef. Man hätte in der Zeitung von mir gelesen. Da bin ich mir sicher.
Ja, solche Gedanken habe ich immer wieder. Nachts, wenn ich die Kneipentüre abgeschlossen habe und auf meinem Motorrad nach Hause fahre. Dann kommen sie hoch, die Zweifel. Ob ich mich nicht doch für ein spannendes Leben hätte entscheiden sollen. Für was Besonderes. Habe ich das wirklich nur für Mama getan? Die hätte es doch eh nicht mitbekommen, wenn ich ihren Laden verkauft hätte. Aber mein schlechtes Gewissen, das wäre dann auch immer da gewesen. Ich kann nicht sagen, wie gut und ob überhaupt ich es hätte unterdrücken können. Oder habe ich mich etwa nur aus Bequemlichkeit so entschieden? Ich weiß es nicht. Aber ich sehne mich hin und wieder schon nach dem Leben, das ich eigentlich gerne gelebt hätte.
Jetzt ist es zu spät dazu. Macht euch aber keine Gedanken, Leute. Damit meine ich vor allem Alfred, Günni, Horst und Thorsten. Ihr seid meine besten Freunde. Und euch hätte ich nie gehabt, wenn ich in die große Welt rausgegangen wäre, Karriere gemacht hätte. Deswegen habe ich euch das auch nie gesagt, dass ich mir mein Leben ganz anders vorgestellt habe. Und dass ich meine Entscheidung, die ich damals mit neunzehn getroffen habe, immer mal wieder hinterfragt habe. Ich ärgere mich nur ein bisschen. Jetzt, wo ich zwangsweise zurückblicken muss, frage ich mich natürlich: Warum habe ich es nicht mit dreißig oder vierzig angepackt?
Stattdessen saß ich jeden Montag, an meinem Schließtag, im Schrebergarten draußen, ein kaltes Bier in der Hand, habe mit euch Karten gespielt und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Wer weiß, vielleicht ist das wertvoller als jede Karriere. Und dazu habe ich ein gutes Gewissen. Danke für alles, was wir gemeinsam erlebt haben. Trinkt immer mal wieder einen auf mich, aber weint bitte nicht um mich. Sonst werde ich böse.
PS : Die Kneipe geht an euch, aber es soll sich keiner verpflichtet fühlen, sie weiterzubetreiben. Verkauft sie, dann seid ihr frei.
Dirk Richter, 66 Jahre, Leukämie
verstorben im Oktober 201*
Auf einmal wusste ich, dass ich selbst f ür mein Le ben verantwortlich bin
Im Grunde genommen könnte ich jetzt schon sterben. Ich habe ein abwechslungsreiches, tolles Leben gehabt, und meine Kinder sind selbstständig. Ich habe auch nichts mehr offen, nicht so ein Paket, wo Probleme drin sind, das ich nicht aufgeschnürt habe. Aber Lust zu sterben habe ich nicht.
Wenn du weißt, was dein Leben ist, dann ist es schön, wenn man das leben kann. Schon seit längerer Zeit habe ich mein Leben so eingerichtet, dass ich glücklich bin. Das, was ich tue, mache ich gerne, ich reise viel und lasse Liebe bei meinen Kindern ausströmen. Ich glaube, das Beste, was man seinen Kindern geben kann, ist, selbst glücklich zu sein. Und meine beiden Söhne wollten immer, dass ich glücklich bin. Wenn ich zum Beispiel gesagt habe, ich würde gerne das und das tun, kam immer von beiden die Antwort, Mutter, rede nicht so viel, mach’s.
Meine eigenen Bedürfnisse zu leben musste ich aber erst lernen. Das kam, als ich so um die vierzig war und eine Polyarthritis kriegte. Plötzlich konnte ich mich nicht mehr bewegen, alle Gelenke waren entzündet. Bisher hatte ich nach dem Frauenbild
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