Dieser Sonntag hat's in sich

»Danke dir«, und ging mit unsicheren Schritten in Richtung Tür.
    Meine eigenen Sorgen waren kurzzeitig
meiner Sorge um Hank gewichen. Ich wandte mich Jack zu und öffnete fragend den
Mund. Er schüttelte den Kopf — Hank war noch in Hörweite — und führte mich in
eine andere Ecke der Küche, wo ein Krug mit billigem Wein auf dem Abtropfbrett
der Spüle stand. Er nahm ein schmuddeliges Glas, füllte es und reichte es mir.
    »Was ist los?« fragte er.
    »Rudy Goldring ist tot.«
    Für einen Augenblick erstarrte er, dann
zuckte sein Mundwinkel.
    »Wie?«
    »Er fiel mit dem Kopf gegen den Herd in
seiner Küche. Die Polizei vermutet Totschlag — oder ein Unfall während eines
Streits.«
    »Ein Streit mit wem?«
    »Kennst du den Penner, der seinen
Vordereingang bewacht?«
    »Mein Gott, nicht Bob. Wann?«
    »Heute morgen, zwischen zehn und zwölf,
würde ich sagen. Nach der Leichenstarre zu urteilen...«
    »Du warst bei ihm?«
    »Ja, ich... verdammt.« Plötzlich war
mir übel und schwindelig. Ich ärgerte mich über mich selbst. »Komm, ich möchte
mich hinsetzen.«
    Jack deutete auf den Tisch, und ich
nahm meinen Lieblingsplatz am Fenster ein, von wo man die herrlichen Lichter
der Innenstadt von San Francisco leuchten sieht. Nur leuchteten sie heute nicht
— sie waren schmuddelig vom Nebel und düster. Und sie waren überhaupt nicht
herrlich. In meinem gegenwärtigen Gefühlszustand empfand ich sie nur als
Ausdruck der Geldgier von Immobilienmaklern, die meine Stadt immer mehr
zubauten und zerstörten.
    Ich sah Jack an.
    Jack war unser letzter Neuzugang bei
den Rechtsanwälten und vor etwa einem Jahr zu uns gestoßen. Wir hatten seit
langem einen Fachmann für Strafrecht gesucht — das war Jacks Fachgebiet — , und
nachdem Gilbert Thayer, ein unsympathischer junger Mann, der aussah wie ein
Kaninchen mit Magenweh und sich wie die sprichwörtliche falsche Natter aufführte,
gekündigt hatte, brauchten wir auch jemanden, der Verträge abwickelte. Im
Gegensatz zu dem allgemein verhaßten Gilbert paßte Jack hervorragend in unser
Team. Auch er war — wie Hank und Anne-Marie und die anderen langjährigen
Teilhaber — ein Veteran aus den Kriegen gegen die Armut, Abteilung Los Angeles.
Er und Hank hatten jahrelang in Briefkontakt gestanden und teilten die gleichen
Ansichten, wenn es um den Betrieb einer Kanzlei ging. Als Hank hörte, daß Jack
umziehen wollte, weil seine Frau, eine Anwältin, ein gutes Angebot von einer
bekannten Firma an der Montgomery Street erhalten hatte, bat er ihn sofort, zu
uns zu kommen. Jack hatte genauso schnell angenommen und sich in die Arbeit
gestürzt, als gehörte er schon immer dazu. Er konnte gut mit den Mandanten
umgehen; er bearbeitete seine Verträge mit der gleichen Begeisterung wie seine
strafrechtlichen Fälle und schien sich in einem dreiteiligen Anzug bei einer
Aufsichtsratssitzung ebenso wohl zu fühlen wie in Jeans und Wollhemd bei einer
Besprechung im Hinterzimmer einer Wäscherei.
    Aber nach sechs Monaten ging seine Ehe
in die Brüche, und Jack war in eines der Zimmer im ersten Stock der Kanzlei
gezogen. Niemand hatte viel davon gesprochen, aber ich hatte erfahren, daß die
Ehe seit langem in einer Krise gesteckt und der Belastung durch den großen
Umzug und die beruflichen Veränderungen der beiden Ehepartner nicht
standgehalten hatte.
    Jack selbst machte einen etwas
verlorenen Eindruck. In seiner Freizeit ging er durchs Haus und suchte nach
Leuten, mit denen er reden konnte; er fing immer wieder Bücher an, legte sie
halb gelesen irgendwohin, bis sie Staub ansetzten und jemand anders sie
wegräumte. Die, die es wissen mußten, sagten mir, daß solche Lustlosigkeit und
die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, typische Probleme von frisch
Geschiedenen seien, und ich war sicher, daß Jack sich bald wieder fangen würde —
bei der liebevollen Betreuung, die er von den anderen Kollegen erfuhr.
     
    Nun fuhr er sich mit der Hand durch
sein dichtes graues Haar. Sein hageres Gesicht war ausdruckslos, er versuchte
aufzunehmen, was ich ihm gerade gesagt hatte. Er ließ seine Hand einige
Sekunden auf seinem Kopf liegen, dann legte er sie auf meine.
    «Hast du seine Leiche gefunden?« fragte
er.
    «Mehr oder weniger. Ich hatte eine
Verabredung, um meinen Bericht abzugeben und...«
    »Bist du in Ordnung?«
    »Deprimiert, aber es wird schon gehen.
Es war ein Schock — aber das ist es jedesmal.«
    Jack nahm seine Hand weg und griff nach
seinem Wein. »Ist man sicher, daß Bob es