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Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)

Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)

Titel: Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Amend , Daniel Meyer
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vorzustellen, wie sie sich ganz alleine in der Kälte, im Regen, in der Dunkelheit, im Dreck, durchschlagen musste. Ich bekam Schüttelfost. Lars war nicht da. Sina hatte mich jetzt auch verlassen. Ich war wieder alleine auf der Welt und wollte nur noch sterben. Es hatte alles keinen Sinn mehr. Warum noch kämpfen? Mama hielt meine Hand, um meinen Puls nach unten zu fahren. Ich bat sie, in den Keller zu gehen, um nach meinem alten Kickertisch zu sehen. Erst wollte sie nicht, aber dann tat sie mir den Gefallen, weil sie wusste, dass ich ihr sonst keine Ruhe ließ. Dann geschah ein Wunder. Mama kam mit Sina auf dem Arm zurück. Ich schrie vor Glück, küsste und streichelte sie. Sie stank ganz fürchterlich, weshalb ich sie sofort wieder an Mama zurückgab. Mein Schüttelfrost konnte mir mal den Buckel herunterrutschen. Mein Baby war wieder da. Endlich konnte ich beruhigt einschlafen: »Danke, lieber Gott, dass du Sina gerettet hast.«

35
    Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Mir war ein bisschen übel, obwohl mir gar nicht richtig übel war. Ich konnte im Bett liegen bleiben und musste nicht über dem Waschbecken kotzen gehen. Nicht diese Art von Übelkeit, meine ich. Ganz anders. Ich rief nach Mama, aber sie stand sowieso schon in der Tür.
    »Heute gibt’s keinen Anruf bei deinem Bruderherz«, sagte sie. »Der will nämlich auch mal seine Ruhe haben.«
    Ich sagte: »Heute Abend? Nööö, ruf ihn nicht mehr an. Bin eh zu müde.«
    Mama fragte: »Ist alles okay?«
    Ich sagte: »Ja, ist alles okay. Gute Nacht.«
    Zwei Minuten später stieg ich fluchend aus meinem Hochbett.
    »Scheiße Mama, so ein Mist. Muss doch mit Bruderherz reden, nur kurz seine Stimme hören. Bitte, bitte.«
    Mama lachte nur noch und gab mir einen Kuss. Ich sprach auch wirklich nur kurz mit Lars, vielleicht eine Minute oder zehn, dann lag ich wieder mit meinen Gedanken im Bett. Das ungute Gefühl im Bauch kam zurück. Wieder rief ich nach Mama.
    »Hast du noch diese Engel, die Ester uns mal geschenkt hat?«
    »Ja, die liegen in einer der Kisten im Gästezimmer.«
    Mama stand da wie ein Felsblock und verzog keine Miene.
    »Kannst du mir bitte zwei Engel bringen, einen für Maike und einen für Vincent.«
    »Wie kommst du jetzt darauf?«, fragte sie leise.
    »Weiß nicht«, sagte ich.
    Dann fasste Mama mir an die Stirn.
    »Geht’s dir nicht gut?«
    Ich sagte: »Weiß nicht.«
    »Brauchst du die Engel heute noch?«
    »Ja, stell sie einfach unter mein Bett auf den Schreibtisch. Es reicht, wenn sie im Zimmer sind.«
    Mama starrte mich immer noch entsetzt an. Ich konnte es mir auch nicht erklären, was es mit den Engeln plötzlich auf sich hatte. Ich brauchte sie eben. Mit ihnen fühlte ich mich sicherer. Am nächsten Tag löste sich das Geheimnis auf. Die Nachricht traf mich mitten ins Herz.

    Vinnie starb um 17.25 Uhr. Eigentlich hieß er Vincent, aber seine Freunde durften ihn Vinnie nennen. Ich war sein Freund. Vinnie saß im Rollstuhl und konnte sich nicht mehr bewegen, auch nicht sprechen. Aus ihm kamen nur seltsame Laute heraus, aber das machte nichts. Wir konnten uns auch ohne Worte unterhalten, weil wir uns liebhatten. Am liebsten mochte er es, wenn man seinen Kopf kraulte, aber das durfte nicht jeder. Ich schon. Musik hörte er auch gerne, klassische Musik. Da spielte er mit seinen Armen Dirigent. Wenn er seine Lieblingsmusik hörte, war er immer glücklich und lächelte. Das waren schöne Momente. Vinnie hatte seinen sechzehnten Geburtstag gerade noch erlebt. Zwei Wochen später, war er tot. Ich wischte meine Tränen aus dem Gesicht. Ich schaffe das auch, sprach ich mir selbst Mut zu. Für Vinnie!
    Im Hospiz gibt es zwei Fotowände. An der einen Wand hängen Fotos von den Kindern, die noch leben und an der anderen Wand hängen die Kinder, die schon gestorben sind. Wir werden Vinnie jetzt umhängen, dachte ich, und dieser Gedanke brach mir das Herz. Er kam zur gleichen Zeit ins Hospiz wie ich. Wir wurden gleich am ersten Tag Freunde. Das war gut, denn so mussten wir beide nicht mehr allein sein. Vinnie war nie gemein zu mir, niemals. Er hatte mich lieb, so wie ich bin, und ich ihn auch. Aber jetzt konnte er mich nicht mehr liebhaben.
    Bis zu meinem sechzehnten Geburtstag waren es nur noch sechs Wochen. Was ist, wenn ich danach auch sofort sterbe? Es wurde wieder schwarz in meinem Kopf, aber zum Glück lag ich neben Mama auf der Couch und konnte nicht in Ohnmacht fallen. Vinnie starb an den Folgen einer Lungenentzündung. Als ich das

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