Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
Mama und Ester belauscht. Sie sagte, dass die kommenden Wochen sehr schwer werden würden, weil es zwei weiteren Kindern aus dem Hospiz sehr schlecht ginge. Natürlich wusste ich, über welche Kinder sie sprachen. Ich bin ja nicht blöd. Als ich ihre Gesichter vor meinen Augen sah, tropften einige Tränen heraus. Es war so ungerecht. Luca war doch noch ein Baby, gerade mal sieben Monate alt. Hatte er denn keine Chance verdient? Das andere Kind hieß Kjell. Er war zwar schon drei, aber so alt war das ja auch noch nicht. Ich hatte beide lieb und wollte nicht, dass sie sterben. Ich wollte viel lieber an große Hupen denken, weil das mehr Spaß machte, aber so sehr ich es versuchte, ich konnte meine Gedanken nicht kontrollieren. Immer wieder tauchten die gleichen fünf Wörter auf: Bald ist niemand mehr übrig. Bald ist niemand mehr übrig. Bald ist niemand mehr übrig.
Ich fragte mich, ob dann neue Kinder kommen würden. Selbst wenn, lange würden sie ja auch nicht durchhalten. Schon komisch, selbst im Hospiz, in das nur kranke Kinder kommen, blieb ich am Ende alleine. Lars sagte mal, ich sei wie Bruce Willis: Last Man Standing. Ich mag keine Actionfilme, weil dort immer so viele Menschen erschossen werden, deswegen hörte ich nicht richtig zu, als er mir davon erzählte. Plötzlich freute ich mich auch gar nicht mehr, am nächsten Morgen in die Schule zu gehen.
Layla war nirgends zu sehen. Ich hatte überlegt, ihr eine SMS zu schicken, aber in der Schule durften wir unsere Handys nicht benutzen. In der Elf-Uhr-Pause stand ich mit Alexej vor unserem Klassenzimmer. Ich war gerade dabei, seinen Rollstuhl in Richtung Fahrstuhl zu schieben, als Manuela um die Ecke gesaust kam. Ich hob meine Hand, um sie zu grüßen, aber sie zeigte mit dem Finger auf mich und zischte mir frech ins Gesicht: »Wenn ich dich noch einmal in der Nähe von Layla sehe, bist du tot!«
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich stand wie festgefroren neben Alexej, und in meinem Kopf wurde es neblig. Sie benutzte auch Schimpfwörter, aber ich konnte sie mir nicht merken, weil ich Angst bekam. Manuela war Laylas beste Freundin und größer und älter und stärker als ich. Sie hätte mich im Kampf auf jeden Fall besiegt. Was hatte ich ihr denn getan? Warum wollte sie mich töten? Vielleicht hatte Layla ihr vergessen zu erzählen, dass wir wieder zusammen waren? Ein Lehrer lief an uns vorbei. Manuela grüßte ihn freundlich. Ich bekam kein Wort heraus. Bevor sie wieder verschwand, fuhr sie mit einem Finger an ihrem Hals entlang. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Mir wurde schlecht, und ich rannte so schnell ich konnte auf’s Jungs-Klo und schloss mich ein. Ich weinte und konnte überhaupt nicht mehr aufhören. Zum Glück gab es genug Toilettenpapier. Ich hatte so viel Angst wieder herauszukommen, dass ich mich die ganze Pause lang dort versteckte. Wo war mein großer Bruder, wenn ich ihn brauchte? Mein Handy steckte in meiner Hosentasche, und ich wollte ihn so gerne anrufen, aber weil es verboten war, traute ich mich nicht. Als der Dong ertönte, öffnete ich vorsichtig die Tür, schaute nach links und nach rechts und huschte ins Klassenzimmer zurück. Dort fühlte ich mich sicher, aber als der Unterricht begann, ging der Terror weiter. Ich weiß nicht, was ich getan hatte, aber plötzlich drehten sich meine Mitschüler zu mir um und zeigten mir den Vogel und den Mittelfinger. Warum hatten es heute alle auf mich abgesehen? Hatte Manuela sie dazu angestiftet? Sie sagten »Arschloch« und »Wichser« zu mir, aber nicht laut, sondern in Lippensprache. Ich wollte nur noch weg, weit weg. Mein Englischlehrer bekam von all dem nichts mit, doch ich hielt die Schikanen nicht lange aus, sprang vom Stuhl auf und schrie, dass sie endlich damit aufhören sollten. Ich benutzte die gleichen Ausdrücke wie sie, nur dass ich sie laut aussprach, weswegen ich einen Eintrag ins Klassenbuch bekam. Ich versuchte dem Lehrer zu erklären, was passiert war, aber aus meinem Mund kam nichts heraus, was er verstehen konnte. Er hätte mir sowieso nicht geglaubt.
In der nächsten Unterrichtsstunde sollten wir von einem schönen Erlebnis aus der Vergangenheit erzählen. Ich überlegte kurz und meldete mich. Ich wollte davon berichten, wie ich mit meiner Mama Alexej im Krankenhaus besucht hatte und dass ich sehr glücklich darüber war, dass er seine Operationen gut überstanden und wieder bei uns in der Schule war. Als ich meinen Mund öffnete, um meinen ersten Satz
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