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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Besuchen über viele Monate hinweg, noch einer harten Prüfung unterzogen werden könnte. Er war davon ausgegangen, dass Deb niemals aufhören würde, seine weltliche Familie zum Gebet aufstellen zu wollen und den introvertierten Zach zu bedrängen, gemeinsam Gott zu danken für jeden Tag, der seiner kranken Mutter noch vergönnt war. Er hatte vorab bereits seine leichte Verärgerung darüber gespürt, dass Ruby jeden Abend joggen gehen musste, während sich alle anderen zu einer Mahlzeit zusammenfanden, die zuzubereiten er wieder mal sein abendliches Fitnesstraining geopfert hatte.
    Im Fall gleichzeitiger Besuche war er es vorauseilend schon leid gewesen, wie Glynis und Ruby ihre mollige jüngere Schwester vorführten, indem sie sich nur eine magere Hähnchenkeule nahmen, wenn Deb zwei aß. Bei Debs anhaltendem Verdruss über die Appetitlosigkeit seiner Frau sah sich Shep schon, wie er irgendwann die Geduld verlor und Glynis anherrschte, dass ihre elend kleinen Portionen kein Zeichen von Überlegenheit, sondern eine unzureichende Zufuhr von Kalorien darstellten, die auch Verhungern genannt wurde und mit der sie sich über kurz oder lang umbringen werde, sofern der Krebs ihr nicht zuvorkomme. Insgesamt gesehen hatte er sich ein wenig Sorgen gemacht, dass ihm seine Schwägerinnen nach immer längeren Aufenthalten auf die Nerven gehen würden.
    Niemals in einer Million Jahren hätte er damit gerechnet, dass er sich mit dem umgekehrten Problem würde herumschlagen müssen: dass nach dem anfänglichen Run an die postoperative Bettkante keine der beiden Schwestern noch einmal zu Besuch käme.
    Gut, beide Geschwister riefen immer noch an, aber immer seltener, und die Frequenz dieser gelegentlichen Telefonate war genau an jenem Punkt endgültig abgestürzt, als sich der Zustand ihrer Schwester nach der kurzlebigen »Genesung« erneut verschlechterte. Unterdessen rief immerhin Hetty nach wie vor jeden Tag an, und zwar so zuverlässig zur gespenstisch frühen Stunde um neun Uhr morgens, dass man die Uhr nach dem Telefon hätte stellen können.
    Nachdem Ende September eines dieser Telefonate eine Viertelstunde lang dahingehumpelt war und sich Glynis noch kryptischer und mürrischer zeigte als gewöhlich, hatte sie Shep den Hörer weitergereicht. »Meine Mutter will dich sprechen. Nur zu.«
    »Sheppy?«, sagte Hetty, und er zuckte zusammen. Seine Schwiegermutter hatte diesen beleidigten Tonfall, den Glynis hasste, da er weniger an eine zweiundsiebzigjährige pensionierte Lehrerin als an einen ihrer Erstklässler erinnerte, dem man den Lutscher weggenommen hatte. In Person neigte sie dazu, sich an seinen Arm zu klammern, und diese weinerliche Intonation war die akustische Entsprechung. Indem sie »Sheppy«, den idealen Schwiegersohn (also diesen wunderbaren Mann, der alles bezahlte), vergötterte, hatte sie schon lange einen Keil zwischen ihn und Glynis getrieben.
    »Ich tue wirklich alles , um Glynis wissen zu lassen, dass ich in diesen schicksalsschweren Tagen für sie da bin. Aber sie kann ja so … schnippisch sein! Ich weiß, sie ist sehr krank, und ich versuche immer Rücksicht darauf zu nehmen, aber …« Hetty begann zu schniefen. »Gerade eben war sie furchtbar unfreundlich!«
    »Sie hat’s nicht so gemeint, Hetty, das weißt du doch.« Natürlich hatte Glynis es so gemeint. Sie meinte immer mehr von dem, was sie sagte..
    »Entschuldige bitte die Frage …« Er hörte, wie sie sich in eines der vielen zerfetzten Papiertaschentücher schnäuzte, die sich in den Taschen ihrer Hausmäntel angesammelt hatten. »Aber will Glynis überhaupt, dass ich sie anrufe? Will sie überhaupt mit mir reden? Davon ist nämlich wenig zu merken! Wenn meine Kontaktaufnahme nicht erwünscht ist, will ich mich bestimmt nicht aufdrängen.«
    Nachdem er das Gespräch mit seiner Schwiegermutter beendet hatte, war Glynis ausgerastet, und den Text kannte er inzwischen auswendig. »Ständig will sie was von mir, und ich kann’s ihr einfach nicht geben! Ich hab’s nie gekonnt und gerade jetzt erst recht nicht! Sie ruft nicht meinetwegen an, sie ruft ihretwegen an! Immer und immer wieder soll ich ihr bestätigen, was für eine wunderbare Mutter sie war, aber so war es einfach nicht, und ich kann’s nicht sagen und ich werde es nicht sagen. Ich soll sie unterhalten und trösten und mir was einfallen lassen, um Tag für Tag diese tote Luft zu füllen, eine Zumutung ist das! Herrgott noch mal, sie ist wie ein schwarzes Loch! Jetzt, wo ich

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