Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
beschränkt: die Entzündungen an den Armen, wo die Chemo aus der Kanüle sickerte und ihr die Haut versengte; die Thoraxdrainage, um die Lungenflüssigkeit aufzusaugen, die ihr Atembeschwerden verursachten; die Müdigkeit, die etwas besser oder lähmend schlimm wurde, aber nie ganz wegging; die Ausschläge und Schwellungen und die sonderbaren Striche in ihren verfärbten Nägeln. Dies waren die Geschichten, die sie erzählen konnte, und sogar für Glynis selbst waren sie deprimierend und monoton.
Glynis zeigte keinerlei Bewusstsein für die Welt jenseits der Grenzen ihres bescheidenen Heims. Denn schließlich bezogen die durchschnittlichen heutigen Probleme ihre Dringlichkeit aus dem Umstand, dass sie in Wirklichkeit Probleme von morgen waren: der Klimawandel, die Verschlechterung der amerikanischen Infrastruktur, das wachsende Finanzdefizit. Solche Dinge kümmerten einen nur, wenn einen ebenfalls kümmerte, dass San Francisco eines Tages in den Pazifik rutschen könnte, Dutzende von Autos demnächst von einer maroden Brücke auf der I-95 zu stürzen drohten oder das ganze Land vielleicht bald in chinesischer Hand wäre. Doch die Dinge, die da kamen, kümmerten Glynis nicht. Die ersten beiden kamen ihr lustig vor. Und was Letzteres anging, den Ausverkauf der Gesamt-USA, konnten ihretwegen die Chinesen das Land ruhig haben.
Der deutlichste Hinweis dafür, dass sie die Augen doch nicht so sehr vor der Wahrheit verschloss, wie es den Anschein machte, war Glynis’ Desinteresse an der Zukunft. (Die einzige Ausnahme zu Glynis’ allumfassender Teilnahmslosigkeit stellte alles dar, was ihre laufende Klage gegen Forge Craft anging. Der Rechtsstreit weckte einen Blick in ihren Augen, den Shep aus Natursendungen kannte – wenn ein Panther mit geöffnetem Fang und starrem Blick auf seine Beute lauert. Doch Shep versuchte das Thema zu vermeiden. Die treibende Kraft seiner Frau war ihm nicht ganz geheuer: Rache, und zwar von der wahllosesten Sorte.)
Zu guter Letzt, um fair zu sein – Shep hatte keine Lust, fair zu sein, aber die Dinge aus einer anderen Warte zu betrachten war eine lebenslange Gewohnheit –, war Glynis ganz einfach ein schwieriger Mensch. Eine Vielzahl von Themen kamen im Gespräch mit ihr nicht infrage. Vor allem ein Thema war mit dicken roten Strichen abgegrenzt, und an jedem Zugang prangte ein Betreten-verboten-Schild. Das Problem war, dass dies unter den gegebenen Umständen ein großes, möglicherweise das wichtigste oder gar das einzige Thema darstellte. Wie er am Ende jenes verunglückten Abendessens mit Carol und Jackson festgestellt hatte, konnte man immer dann, wenn man über ein bestimmtes Thema nicht reden durfte, auch über sonst nichts reden. Insofern schienen diese Besuche sich in vorgegebenen Bahnen zu bewegen; sie wirkten nicht real; sie hatten etwas Verlogenes, an dem allein Glynis schuld war.
Aber weiter reichte sein Mitgefühl nicht. War es einmal so weit gedehnt worden, sprang es wie ein Bungeeseil zurück an den Punkt des traurigen Eindrucks, dass seine Frau die bekanntermaßen kurze Aufmerksamkeitsspanne ihrer Landsleute mit ihrer Krankheitsdauer schlichtweg überfordert hatte. Nachdem das Mesotheliom seinen Neuheitswert verloren hatte, war sie zu einem personifizierten Allmählich-Reicht’s geworden. So wie die meisten von ihnen keine zwei Runden um ein Footballfeld geschafft hätten, ohne vor der Tribüne erschöpft zusammenzubrechen, zeigten Freunde wie Familie wenig emotionales Durchhaltevermögen.
Shep war Eingeborener eines Landes, zu dessen kulturellen Errungenschaften das Telefon, die Flugmaschine, das Fließband, das Fernstraßennetz, die Klimaanlage und das Glasfaserkabel zählten. Sein Volk war brillant, wenn es um das Unbeseelte ging – Ionen und Prionen, Titan und Uran und tausendjähriges Plastik. Was sensiblere Zusammenhänge anging – von der Art, dass es einfach auffiel, wenn ein Vertrauer plötzlich von der Landkarte verschwand, sobald eine Freundschaft unbequem, unangenehm, anspruchsvoll, übrigens auch endlich mal zu etwas nutze wurde –, waren seine Landsleute nicht zu gebrauchen. Es war, als wäre noch nie zuvor jemand krank geworden. Als hätte noch nie jemand dem Unaussprechlichen ins Auge sehen müssen. Als wäre Sterblichkeit ein Ammenmärchen, ähnlich wie die Überzeugung, dass man unbedingt acht Gläser Wasser pro Tag trinken müsse, eine These, die am vergangenen Dienstag auf der Gesundheitsseite der Science Times widerlegt worden war.
Es gab
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