Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Shep sollte wissen, dass die neue Gussformfrau sich als weitaus weniger geschickt entpuppt habe als Glynis, sie habe auch nicht ihr Händchen für Linienführung oder ihren Sinn für Humor, und er solle seiner wunderbaren Frau doch bitte ausrichten, wie sehr sie ihr fehle … Er hätte ja Mitleid mit der Frau haben können, hätte versuchen können, sie zu bremsen … Mit bewusstem Sadismus ließ er sie jedoch bestimmt fünf Minuten reden. Es war eine ganz bestimmte Art von übertrieben wortreicher Ausrede, die meist von Leuten bevorzugt wurde, die schlechte Lügner waren. Wobei sie mit ihrer verbalen Inkontinenz zumindest durchblicken ließen, dass sie ein schlechtes Gewissen hatten.
Die Vinzanos dagegen entschieden sich für die große, saubere, allumfassende Ausrede, die immerhin effizient war. Glynis kannte Eileen Vinzano noch aus der Zeit, als sie beide an der Parsons Kunst unterrichtet hatten, somit ging ihre Freundschaft mit Eileen und deren Mann Paul über zwanzig Jahre zurück. Aber seit er ihnen am Telefon von der Operation erzählt hatte, konnte sich Shep nicht erinnern, wann er zuletzt von den beiden gehört hatte. Kurz nachdem er Marion über den Weg gelaufen war, rief Eileen an und behauptete atemlos, dass sie und Paul seit Juni außer Landes gewesen seien. In beklommenem Tonfall erkundigte sie sich nach Glynis’ Gesundheitszustand. Sie hatte Angst, dass sie mit ihrem Anruf schon zu spät war. Offenkundig hatte sie mit einer zartfühlenden Formulierung gerechnet, etwa: »Tut mir so leid, dass ich dir das sagen muss, Eileen, aber Glynis ist im September von uns gegangen.« ( Von uns gegangen , das war die Wendung, die sie erwartet hätte. Als wäre seine Frau nicht unter Qualen gestorben, sondern einfach aus der Tür spaziert.) Stattdessen erzählte er, dass Glynis noch immer durchhalte und dass sie nun schon beim dritten Chemococktail seien. Doch als er ihr anbot, Glynis selbst ans Telefon zu holen, geriet Eileen in Panik. »Nein, nein, lass sie bloß liegen!«, sagte sie fast entsetzt. »Sag ihr einfach nur alles Gute.«
Spätabends in der Halloweennacht schaltete er seinen Computer schließlich ein, um die Liste der »engen Freunde« zu kopieren und in die Liste »weniger enge Freunde« einzufügen. Die Datei »enge Freunde« löschte er.
In seiner gutmütigen Tagesinkarnation räumte Shep ein, dass mehr oder minder alle bereits ein gefühlvolles Zeugnis abgelegt hatten, wie viel Glynis ihnen bedeutet habe. Wie außerordentlich sie ihre Arbeit bewunderten. Wie sehr ihr ganzes Leben von Eleganz und Stilsicherheit geprägt gewesen sei. Wie gern sie sich an dieses oder jenes Ereignis zurückerinnerten … Indem sie passionierte, hochtrabende Reden schwangen, die, wie Glynis mit Empörung bemerkte, ebenso gut als Grabreden funktioniert hätten, manövrierten sich die Besucher von vornherein in eine ganz bestimmte Ecke. Es war dramaturgisch unmöglich, von großen Liebes- und Bewunderungserklärungen zu nichtigem Geplauder überzugehen und zu sagen, wie’s aussieht, wird die Walnut Street doch endlich neu asphaltiert. Mit zehn multipliziert, ähnelte die anschließende Unbeholfenheit der schlechten Dramaturgie, mit der man nach einer Dinnerparty blumige Abschiedsworte aussprach – überladene, stilvolle Worte von der Art, zu denen man sich im Auto noch mal selbst beglückwünschte –, nur um dann festzustellen, dass man seinen Pullover vergessen hatte. Man musste dann beschämt an der Tür klingeln, während die Gastgeber gerade die Geschirrspülmaschine einräumten.
Und voilà, die ganze Eleganz, der Schalk und die überbordende Dankbarkeit des ursprünglichen Abschieds waren dahin, die Gastgeber schlurfen betretenen Schrittes über den Flur und wischten sich die fettigen Hände an einem Geschirrtuch ab, um sich auf die Suche nach dem Kleidungsstück zu machen. Vermutlich war es immer schwierig bei todkranken Menschen, die Sache so hinzudrehen, dass die Beziehung einen heiteren Ausklang nahm. Um einen bewegenden und gut getimeten Abschied zu garantieren, gab es nur den einen Trick, eine zartfühlende, tränenreiche, gut einstudierte kleine Rede zu halten und dann nie wieder aufzutauchen.
Außerdem, was sagte man zu Glynis, wenn die medizinischen Fragen ausgeschöpft waren? Sie wollte nichts davon hören, dass man selbst ein tolles Leben führte, den Klagen der anderen gegenüber war sie äußerst intolerant. Die Ereignisse ihres eigenen Lebens hatten sich auf die Ereignisse ihres Körpers
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