Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben tatsächlich eine Mutter gebrauchen könnte! Nicht noch eine Abhängige, noch ein Problem, noch mehr Ansprüche, noch ein Energiefresser, sondern eine richtige Mutter!«
Zum Glück war Glynis nach ihrem Wutanfall so erschöpft gewesen, dass sie auf dem Küchensofa zusammenklappte und endlich etwas schlief. Er war froh, dass sie nicht nachgebohrt hatte, was Hetty von ihm hatte wissen wollen, denn darauf hätte er nur ungern geantwortet.
Er hatte das Telefon auf die hintere Veranda mitgenommen und Hetty inständig gebeten, weiterhin anzurufen. Jeden Tag. Sich nicht entmutigen zu lassen, die anhaltenden Attacken ihrer Tochter der Krankheit anzulasten, die Beleidigungen und wütenden Bemerkungen an sich abprallen zu lassen und einfach nicht darauf zu reagieren. Implizit bat er sie um eine Reife, die an den Tag zu legen sie nicht die geringste Chance haben würde, wenn sie mit zweiundsiebzig noch immer derart sensibel war. Wer in dieser umkämpften Beziehung nun gerade wen am meisten brauchte, darüber konnte man trefflich streiten. Die einfachste Antwort lautete wohl, dass sie sich gegenseitig brauchten. Glynis hasste diese Telefonate und fürchtete sie ganz aufrichtig. Sollte es jedoch neun Uhr werden, und der Anruf ihrer Mutter bliebe aus, wäre sie am Boden zerstört.
Und weiter? Hetty mochte für ihre Tochter »da« sein, bloß war sie für ihre Tochter nicht hier . Seit jener ersten Reise im März war selbst Glynis’ eigene Mutter nicht wieder nach Elmsford gekommen. Kein einziges Mal. Shep konnte es kaum glauben. Zudem bezog sich der systematische Rückzug vor seiner Frau und ihrem ekligen Krebs längst nicht auf die unmittelbare Familie. Er war universell.
Glynis’ Cousinen, Nichten und Neffen, die Nachbarn (bis auf die unermüdliche Nancy) und schockierenderweise ihre sämtlichen Freunde hatten immer seltener angerufen und die Gespräche immer kürzer ausfallen lassen. Sie alle hatten größere Abstände zwischen ihre Besuche gelegt und hielten die Gesellschaft seiner Frau immer weniger lange aus.
Shep kannte sämtliche Standardausreden. Dass man sie nicht überstrapazieren, stören oder wecken wolle. Dass man nie genau wisse, ob sie gerade im Krankenhaus liege, Chemotherapie bekomme oder immer noch k.o. sei von der letzten Dosis. Nachdem sie gewarnt worden waren, dass Glynis keinen Infektionen ausgesetzt werden dürfe, sagten einige Freunde unter dem Vorwand hartnäckiger Erkältungen mehrere Besuche in Folge ab. Sie wollten ja nur Rücksicht nehmen. Andere Ausreden waren so umständlich, dass es weitaus weniger Mühe erfordert hätte, Shep nach Monaten des Schweigens mit den undurchsichtigen Erklärungen zu verschonen und die arme Frau einfach selbst kurz anzurufen.
Nach Zachs Informationen waren die Eigers – die Eltern von einem von Zachs engeren Kumpels, mit denen sie seit vielen Jahren am vierten Juli gegrillt und Vorweihnachten gefeiert hatten – so sehr damit beschäftigt, mit ihrem ältesten Sohn für den Hochschul-Zulassungstest zu lernen, dass die anstrengende Fahrt aus dem sechs Meilen entfernten Irvington nicht infrage kam, wobei das eine Distanz war, die Zach regelmäßig per Fahrrad zurücklegte. Es verstand sich von selbst – zumindest schienen es alle so zu verstehen –, dass diese strikten Nachhilfesitzungen durch beide Eltern zu jeder zur Verfügung stehenden Tageszeit eine so zeitaufwendige und kräftezehrende Geste wie ein Telefonat ausschlossen.
Marion Lott, die Chocolatière, mit der Glynis bei ihrem albernen Job viel getratscht und sich recht gut angefreundet hatte, war eine Zeit lang aufmerksam gewesen. Mit der Entschuldigung, dass Glynis selbst mit Schokolade wahrscheinlich wenig anfangen könne, stand Marion anfangs mit einer Tüte formloser Trüffel für Shep und Zach nebst Früchtekorb für die Patientin vor der Tür. Doch die Carepakete sowie die Besuche waren seit Mai ausgeblieben. Als Shep Anfang Oktober Marion vor der Apotheke über den Weg lief – er war mal wieder auf der Suche nach Einlauftabletten für Glynis –, hatte die Schokoladenfabrikantin nervös drauflosgeplaudert, wie viel gerade im Laden los sei und dass sie aus dem fernen Chicago Bestellungen zu bearbeiten habe, und dann sei eine ihrer Mitarbeiterinnen schwanger geworden und leide schrecklich unter morgendlicher Übelkeit, und er wisse ja, wie unangenehm das sei, den ganzen Tag dieser Schokoladenduft, und so habe es an Arbeitskraft gefehlt … Ach ja, und
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