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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Ihr Inhalt war ein Symbol von Veränderung, von »Nachrichten«, doch die Zeitung selbst war ein Symbol dafür, dass nichts geschah.
    Blau. Der Plastikumschlag der Zeitung war leuchtend kobaltblau. Dass der Plastikumschlag der New York Times blau war, hatte die gleiche Wichtigkeit wie die Geschichten auf der Titelseite. Das war schon mal eine Offenbarung, wenn man denn von Offenbarung sprechen konnte: dass alles gleichwertig war. Es gab nichts Großes und nichts Kleines mehr. Abgesehen von den Schmerzen, die zu ehrfurchtgebietender Heiligkeit emporgewachsen waren, war alles gleich wichtig geworden. Wichtigkeit an sich gab es also nicht mehr.
    Ein Experiment. Sie sitzt vor der Zeitung. So wie damals, in der alten Zeit, als sie dazu einen Kaffee getrunken hatte. (Igitt – Wie konnte sie nur? Igitt . ) Sie kann die alte Zeit nicht zurückholen. Sie denkt an Step-Aerobic im Fitnessstudio: schlimmer als Kaffee. Wie konnte sie nur? Igitt .
    Es ist schwer, aufrecht zu sitzen. Schwer, die Schrift zu erkennen. Rutscht einem immer wieder aus der Hand. Sind aber eigentlich nicht die Augen. Die Augen tun’s noch – gehören zu den wenigen Körperteilen, die noch funktionieren. Fokussieren, befiehlt sie sich. Für einen Moment stehen die verschwommenen Buchstaben still. »Studie findet keinen Zusammenhang zwischen fettarmer Diät und Krebs oder Herzkrankheiten.«
    Huh, dachte Glynis matt. Es hätte eine Zeit gegeben, da hätte sie sich aufgeregt; der viele wässrige Hüttenkäse, die bläuliche fettarme Milch, die den Kaffee grau machte: alles umsonst. »Dreitägige Sektenunruhen durch Ausgangssperre niedergeschlagen …« Irak. Oder irgendwo anders, scheißegal. Früher hätte sie vielleicht unterschieden, aber jetzt waren alle Kriege gleich, Hintergrundrauschen. Es gab immer irgendwo Krieg, man konnte die Kämpfe nicht aufhalten, also sollte man es am besten gar nicht erst versuchen. Wenn einer aufhörte, fing woanders einer an, also könnten sie im Prinzip auch da weiterkämpfen, wo sie schon waren. Glynis konnte nicht ganz nachvollziehen, wie Menschen wegen irgendeiner Sache so in Wallung geraten konnten, dass sie tatsächlich deswegen das Haus verließen.
    Unfassbarerweise hatte sie einst jeden Morgen, komme was wolle, auf diesem Stuhl gesessen und Seite für Seite den Politikteil durchgeblättert. Hatte sich auch immer das Feuilleton durchgesehen, auf der Suche nach Kritiken über Leute, die sie kannte (in der Hoffnung, dass die Kritiken böse sein würden – weswegen sie vermutlich ein schlechtes Gewissen hätte haben sollen, was aber nicht der Fall gewesen war). Hatte sich Rezepte aus dem Gastronomieteil ausgeschnitten, war es immer dienstags gewesen? Mittwochs. Ihr Mann dagegen hatte die Zeitung kaum mehr als überflogen. Also pflegte sie Shep beim Essen (Vor dem Abendessen, Essen-als-Genuss: Die von Ihnen gesuchten Daten stehen nicht länger zur Verfügung; Genuss: Die von Ihnen gesuchten Daten stehen nicht länger zur Verfügung) mit empörenden Details unterhalten, von denen sie gelesen hatte in einem Artikel über …
    Was? Worüber hatte die Vorher-Glynis einst gelästert? Beeindruckt von sich selbst, dachte sie: über die Pläne zum Wiederaufbau des World Trade Center. Wie irgendein Komitee den Entwurf dieses einen … Name des Architekten entfallen. Oder besser: zu faul, um sich an Architektennamen zu erinnern. (Eine weitere Offenbarung: Ihr war nie klar gewesen, dass Denken Mühe kostete. Dass Gedanken Kraft erforderten. Wie sich herausstellte, lohnten nur sehr wenige Gedanken, einst mühsam formuliert, diese Kraft. Selbst dieser: Sie hätte auch darauf verzichten können. Und das war jetzt das Maß aller Dinge: das reine Am-Leben-Sein, Lebendigsein. Ihr zerrann allmählich zwischen den geistigen Fingern, was dieses Lebendigsein eigentlich genau war. Es war absolut denkbar, zum Beispiel, dass sich Lebendigsein vor allem dadurch auszeichnete, Schmerzen empfinden zu können, und in dem Fall stellte sich die Frage, weshalb dieser Zustand so gepriesen wurde.)
    Richtig; da war doch dieser Abend gewesen. Sie war lebhaft geworden. Zuvor hatten sie und Shepherd die öffentliche Ausstellung der Wettbewerbsentwürfe für den Wiederaufbau der Zwillingstürme besucht. Von den sieben ausgestellten Modellen hatte Shepherd typischerweise einen quadratischen, konventionellen Wolkenkratzer bevorzugt. Glynis hatte sich in ein anderes Modell verliebt, von diesem – wie hieß er noch gleich? – irgendeinem Ausländer. Sie

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