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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Kratzer auf einer Oberfläche. Hatte die Vorher-Glynis einen Kratzer entdeckt, hatte sie eine ansonsten makellose Oberfläche abermals mit dem 100er-Schmirgelpapier aufgeraut, um den Kratzer zu entfernen und sich anschließend wieder durch die 200er-, 300er-, 400er-Schmirgelpapiere zu arbeiten, wobei sie sorgfältig jede Gradierung senkrecht zur vorhergehenden schliff, bis sie schließlich die Oberfläche mit Polierpaste und Tuch so spiegelglatt aufpolierte, dass man wie zuvor sein Make-up darin hätte überprüfen können. Es dauerte Stunden, die Hände taten weh, und die Fingergelenke waren geschwollen – nur weil sie einen einzigen Kratzer hatte eliminieren wollen. Inzwischen wusste sie nicht mehr, wie es sich anfühlte, wenn sie etwas wirklich wichtig nahm, und was sie sich nicht vorstellen konnte, das konnte Glynis auch nicht vermissen. Also war das Nichtwichtignehmen auf seine Weise in Ordnung. Sie kannte ja nichts anderes.
    Die Vorher-Glynis war der Nachher-Glynis ein ziemliches Rätsel geworden – ähnlich wie diese etwas anstrengenden Verwandten, mit denen man wenig gemein hat und zu denen man nur deshalb überhaupt eine Meinung hat, weil man zufälligerweise blutsverwandt ist. (Waren sie das? Blutsverwandt? Jetzt nicht mehr, könnte man behaupten. Das Blut in ihren Adern war mehrfach ausgetauscht worden. Inzwischen war sie nicht mal mehr mit sich selbst blutsverwandt.) Diese Vorher-Glynis war vermutlich eine Frau gewesen, die den Luxus großer Zeitabschnitte genossen hatte, die frei waren nicht nur von jener von Shepherd ewig beklagten Notwendigkeit des Geldverdienens, sondern – und nur darauf war es angekommen, wie sich nun zeigte – frei von der Last des Körpers. Die Vorher-Glynis war eine Frau gewesen, die »gesund« war. (Dieser theoretische Zustand war der Nachher-Glynis vielleicht mehr als jedes andere Merkmal entfallen. Doch nur als Erfahrung. Als Begriff konnte sie »Gesundheit« besser nachvollziehen als jeder andere auf der Welt. Denn die Nachher-Glynis hatte ein schreckliches Geheimnis entdeckt: Es gibt nur den Körper. Es hat nie etwas anderes gegeben als den Körper. » Gesundheit « ist die Illusion, keinen Körper zu haben. Gesundheit bedeutet, dass man dem eigenen Körper entkommen ist … Aber es gibt kein Entkommen. Also ist Gesundheit nur ein Aufschub. ) Was hatte die Vorher-Glynis, die gesunde Glynis, die Kurz-bevor-sie-im-nächsten-Moment-gnadenlos-krank-werden-würde-Glynis, mit ihrer Freifahrt gemacht, mit der wunderbaren Illusion, dass sie mehr wäre als nur ein Körper – ein Körper und nichts als Körper?
    Sie hatte Zitronenbaisertorten gebacken, fast so hoch wie breit. Die weißen Türme mit den braun gewellten Krusten wuchsen vor ihrem inneren Auge als reine architektonische Errungenschaft empor, genau wie die Modelle von … Daniel Libeskind. (Da war er wieder. Der Architekt des neuen World Trade Center hieß Daniel Libeskind. Ein Triumph. Ein solcher Moment der Geistesschärfe teilte die Tage in »gute« und alle anderen Tage.) Flüchtig, verderblich, fragil und dazu berufen, bei lebendigem Leibe verzehrt zu werden, waren ihr derlei kulinarische Projekte jetzt ein Rätsel, als hätte diese erwachsene Frau ihre Zeit damit verbracht, Ponys aus Knetmasse zu formen oder Pyramiden aus Bauklötzen zu bauen, die sie am Ende des Nachmittags wieder umstoßen würde. Sie hatte mit dem falschen Material gearbeitet.
    Sie hatte Kinder aufgezogen, aber auch dazu hatte die Nachher-Glynis erstaunlich milde Gefühle. Kinder waren keine Torten. Sie hatte sie nicht gebacken. Eltern, von denen sie nichts hielt, damals, als sie noch Meinungen hatte, waren diejenigen gewesen, die ihre Kinder gebacken zu haben glaubten. Zach und Amelia waren in Ordnung, sie hatte kein Problem mit ihnen, aber sie hatten im besten Sinne eigentlich nichts mit ihr zu tun.
    Aber: abgesehen von Torten, Kindern und Fußböden war es schwer zu ergründen, womit genau die Vorher-Glynis denn ihre Zeit herumgebracht hatte. Womit sie spezifischerweise nicht den durchschnittlichen Glynis-Tag herumgebracht hatte, war das Schmieden.
    Und hierauf konzentrierte sich ihre heutige Verwirrung.
    Die Vorher-Glynis war auf der Kunstschule gewesen. Die Vorher-Glynis war sehr geschickt gewesen, und es hatte viele kostbare gesunde Jahre erfordert, um diese Geschicklichkeit zu erlangen.
    Indem sie die Zeitung von sich schob – sie hatte nicht mal einen Blick auf die Titelseite geworfen –, torkelte sie an die eigens für ihr

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