Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Fixierung auf Kochsendungen hätte ihm Mut gemacht, wenn die Menge an Essen, die sie sich im Fernsehen ansah, sich nicht umgekehrt proportional zu dem verhalten hätte, was sie tatsächlich zu sich nahm.
»Weißt du, was mich total fertigmacht«, sagte sie, ohne ihr Essen angerührt zu haben, »die Leute erwarten von mir, dass ich eine Antwort haben soll. Als hätte ich das Geheimnis des Universums gelüftet. Neben Chemotherapie, Lungendrainagen und MRTs soll ich für den Rest der Welt auch noch das Wasser teilen! Was soll das, verdammte Scheiße? Das ist doch aberwitzig! Was soll man denn noch alles auf sich nehmen, wo man sich sowieso schon wie ausgekotzt fühlt? Was ist der Sinn des Lebens? Wie hast du dich verändert? Wie siehst du jetzt die Welt? Jetzt, wo du das Licht gesehen hast, sag uns, was ist wirklich wichtig? Herrgott, ich betreibe doch kein Ashram, ich bin krank. Alle wollen was von mir, genau wie meine Mutter. Und wenn ich’s dann nicht bringe, bin ich die große Enttäuschung. Man gibt mir das Gefühl der Unzulänglichkeit, nur weil ich’s nicht schaffe, ins Badezimmer zu kriechen, mir einen Einlauf zu machen, mir pro Stunde fünfzig Pillen einzuwerfen und gleichzeitig die Gutenberg-Bibel runterzubeten.«
Es war immerhin eine Annäherung an das Gespräch, das sie mit Petra geführt hatte. »Ich verstehe ja, dass du das als Zumutung empfindest«, sagte er. »Aber ich verstehe auch, wie die Leute darauf kommen, dass du ihnen vielleicht etwas sagen könntest. Wie es ist, mit etwas konfrontiert zu sein … mit dem sie noch nicht konfrontiert waren.«
»Die sollen sich ihre verfluchte Erlösung woanders suchen. Die Glynis-Knacker-Kirche ist wegen Renovierung geschlossen.« Endlich nahm sie einen Bissen. »Was hast du denn mit dem Reis gemacht?«, fragte sie mürrisch, während ein munteres Mädchen im Fernsehen ein rohes Ei über einem Teller Tatar aufschlug und über Salmonellen scherzte.
»In Hühnerbrühe gekocht«, sagte er. »Ich dachte, das macht ihn nahrhafter.« Brühe statt Wasser zu nehmen war eine Idee, die er aus dem Fernsehen hatte.
»Schmeckt ja scheußlich. Mag ich nicht.« Sie schob den Teller an den Rand des Tabletts. »Ich will lieber normalen Reis.«
»Also gut«, sagte er geduldig und nahm das Tablett. »Dann mach ich dir normalen.«
Er ließ sein eigenes Essen stehen. Unten löffelte er den unliebsamen Reis zurück in den Topf. Er kochte einen neuen Topf Reis. Als der Reis fertig war, ließ er ihn etwas quellen, wie er es in The Joy of Cooking gelesen hatte. Er bedeckte ihn mit Butterflöckchen – mindestens fünfzig Gramm –, ehe er ihn mit einer Gabel auflockerte. Er erhitzte ihren Teller in der Mikrowelle, bei 20 Prozent, um das Fleisch nicht zu verkochen, und ging wieder hoch ins Schlafzimmer.
Sie nahm einen Bissen von dem neuen Reis und kaute lange daran herum. Mehr würde sie von dem Reis nicht essen. So lief es meistens. In letzter Zeit neigte sie dazu, um sehr spezifische und manchmal abwegige Speisen zu bitten, auf die sie Lust hatte, und zwar nur auf diese und keine anderen. Er kam ihren Wünschen stets nach. Zuletzt hatte sie um chinesische Sesamnudeln gebeten, die unbedingt von Empire Szechuan in Manhattan sein mussten. Es hatte ihn zwei Stunden im Feierabendverkehr gekostet, um auf dem Nachhauseweg vom Büro das Essen abzuholen. Auch davon hatte sie nur einen einzigen Bissen gegessen. Er glaubte, den Grund zu verstehen. Essen in der Vorstellung wurde immer reizvoller, während Essen in der Realität immer abstoßender wurde.
»Du glaubst, dass ich das alles nicht richtig mache, stimmt’s?«, sagte Glynis, nachdem sie den Teller mit dem verschmähten Essen zum zweiten Mal an den Rand des Tabletts geschoben hatte.
»Was alles?«
»Na, du weißt schon«, krächzte sie. »Ich soll doch anmutig sein. Philosophisch. Gütig. Liebend, großherzig und tapfer. Meinst du, ich weiß nicht, wie so was laufen soll? Ich soll wie dieses kleine Mädchen in Onkel Toms Hütte sein. Wie hieß sie noch gleich? Nell. Selbstlos … was für ein billiger Scheiß.«
»Niemand verlangt von dir, dich auf eine bestimmte Art zu verhalten oder irgendwie zu sein.«
»Quatsch. Du glaubst, ich wüsste nicht Bescheid, dabei weiß ich sehr wohl, was du denkst. Was Petra denkt. Was alle denken, wenn sie überhaupt mal an mich denken«, sie hustete, »also so gut wie nie. Ich soll auch noch gut sein im Krebshaben.«
»Den Tag zu überstehen heißt doch schon, dass man gut ist im
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