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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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hatte das Bild noch vor Augen: eine dynamische, fraktale Anordnung – komplex, kristallin, wie ein explodierter Quarzstein. Es war kein geringes staatsbürgerliches Wunder, dass am Ende ihr persönliches Lieblingsmodell für den Bau ausgewählt worden war.
    Deswegen hatte sie sich an dem Abend auch so aufgeregt. In der Morgenzeitung stand, dass diese gewagte, inspirierte Kreation vom Komitee langsam, aber sicher zum Tod verurteilt worden war. Jedes Element des Entwurfs, das das Modell einzigartig, erhaben und ungewöhnlich machte, war nach und nach abgeschlagen, abgestumpft, erdgebunden und alltäglich gemacht worden. Die schiefen Winkel verliefen jetzt senkrecht. Den Originalplänen des Siegerentwurfs war der gesamte Stil entzogen worden, ähnlich wie Glynis selbst der Stil entzogen worden war, bis er klotzig und klobig war – genau so hatte Petra das Fischmesser genannt: klobig. Ohne Freude, ohne Begeisterung, ohne Verspieltheit würde das neue World Trade Center der Nachher-Glynis ein Denkmal setzen.
    Es war eine schwebende Erinnerung: wie beleidigt, entrüstet sie gewesen war wegen eines Gebäudes. Weil es sie damals noch kümmerte, wie etwas aussah, wie die Dinge aussahen. Die Linienführung der Dinge, aller Dinge. Vielleicht war es wundersam, solche Leidenschaften gehabt zu haben. Glynis wusste es nicht mehr genau. Sie konnte sich an Leidenschaften nicht mehr erinnern. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie es war, die Zeitung zu lesen und aufgrund der Berichterstattung Gefühle zu haben. Sie konnte sich jetzt nicht mehr vorstellen, sich jemals hingesetzt und von Anfang bis Ende einen Artikel über Bulgarien gelesen zu haben. Bulgarien. Erstaunlich, dass ihr das Wort überhaupt noch einfiel.
    War es möglich, sich ernsthaft an etwas zu erinnern, was in der Gegenwart nicht mehr erfahrbar war? Die Frage selbst begann ihr noch im selben Moment zu entgleiten. Sie zwang sich, klar zu denken, nein . Das konnte doch nicht möglich sein. Bevor ihr kleines geistiges Selbstgespräch vom Tisch und zu Boden geschlittert war, dachte Glynis matt, das heißt also, dass alles, was in meinem Kopf abgespeichert war, verrottet ist . Es war, als hätte sie ihre geschätzten Familienerbstücke auf einem löchrigen Dachboden aufbewahrt, wo sie von Mäusen angenagt worden und aufgeweicht und verschimmelt waren. Sich in Shepherd zu verlieben – sein erster Besuch als Handwerker in ihrer Wohnung, um die festschraubbare Werkbank einzubauen –, war fleckig, verschwommen, feucht. Sie konnte das Gefühl des Begehrens nicht mehr wachrufen. Sie konnte sich zwar theoretisch noch erinnern, dass sie von seinen breiten, geäderten Unterarmen wie gebannt gewesen war, aber es war eine Erinnerung in Form einer feststehenden Tatsache, ähnlich wie sie den Namen der Hauptstadt von Illinois noch wusste. Ihre Einzelausstellung, 1983 in SoHo – die Genugtuung und Hoffnung für die Zukunft, die damit verbunden gewesen war, die Ambitionen, von denen sie kündete, die ausgelassene, feuchtfröhliche Feier in Little Italy im Anschluss an die Eröffnung –, das alles hatte sich in einen einzigen monochromen Brei verwandelt wie unleserliche Bücher mit zerlaufener Tinte und verklebten Seiten in morschen Pappkartons auf dem Dachboden. Das Erinnern war eine viel aktivere Tätigkeit, als sie … es in Erinnerung hatte. Die Vergangenheit ließ sich nur aus den Bausteinen der Gegenwart zusammensetzen. Um sich an Freude zu erinnern, musste man Freude zur Hand haben. Um also die Feier nach der Eröffnung in Little Italy zu rekonstruieren, musste man zur unmittelbaren Verfügung haben: Genugtuung, Hoffnung, Ambitionen, Ausgelassenheit, Betrunkenheit. Diese Posten waren nicht mehr auf Lager. Alles, was ihr noch blieb, waren die Wörter, wie die Etiketten unter den leeren Regalen. Auf Lager waren nur noch Unwohlsein, Angst und hier und da für besondere Anlässe eine ungeöffnete Kiste Wut. Nur eine einzige der ungeöffneten Kisten enthielt keine Wut, sondern Selbstanklage, klebrige schwarze Selbstvorwürfe, und sie sickerten heraus und breiteten sich stetig aus wie heißer flüssiger Teer.
    Vielleicht hätte sie dankbar sein sollen, dass ihr das Erinnerungsvermögen abhandengekommen war. Der Verlust, den sie sonst am meisten beklagt hätte, wäre vermutlich der gewesen, dass sie nichts mehr wichtig nehmen konnte. Vorher hatte sich Glynis in alles vertieft, von der spiralförmigen Anordnung von Garnelen auf einer Platte bis hin zu einem letzten hartnäckigen

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