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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Besteck reservierte Küchenschublade. Zurück am Tisch, packte sie langsam die Geräte aus ihrem schützenden Filz. Während sie stumpf auf die Stücke starrte, fragte sie sich, ob es überhaupt möglich war, »stumpf« auf derart glänzende Gegenstände zu starren. Das Gefühl, das sie in ihr auslösten, ließ sich nicht mit Stolz umschreiben, da es sich dabei um einen weiteren Posten handelte, der nicht mehr auf Lager war, als würde sie in einem dieser alten Ostblockländer leben, wo man stundenlang Schlange stehen musste, weil es in einem einzigen Laden angeblich Glühbirnen gab. Dennoch regte sich beim Betrachten ihrer verwirrend nüchternen Werke etwas in ihr. Vielleicht ließ es sich mit Wehmut umschreiben. Sie hatte ihren Mann geliebt oder war zumindest gewillt, wie eine Hauptstadt-von-Illinois-Tatsache zu akzeptieren, dass sie ihren Mann geliebt hatte. Diese glänzenden Artefakte aber waren ihre eigene Mitte. Sie waren immer ihre Mitte gewesen. Sie waren, dachte Glynis, was ich wichtig genommen habe. Das Wichtignehmen war vorbei, doch die Ergebnisse des Wichtignehmens glänzten noch immer in der Politur des Metalls.
    Der Vorher-Glynis hatte Metall am meisten bedeutet. Also würde auch der Nachher-Glynis das Metall etwas bedeuten, vorausgesetzt, dass die Nachher-Glynis überhaupt noch irgendeiner Sache Bedeutung zumessen konnte. Sie war nicht sicher, aber vielleicht war sie noch immer in der Lage, wichtig zu nehmen, dass sie nichts mehr wichtig nehmen konnte.
    Es warf kein sonderlich gutes Licht auf sie: eins geworden zu sein mit einem so harten und kalten Material. Man sollte andere Menschen wichtig nehmen. Man sollte sehen, wie das eigene Haus niederbrennt, und draußen auf dem Bürgersteig die Hände seiner Liebsten ergreifen, vielleicht einen kleinen Stich verspüren wegen der Bücher, der Kleidung und des Porzellans und doch überfließen von dem Wissen, dass man das wirklich wichtige Hab und Gut gerettet, dass man immer noch seine Familie hatte. Glynis aber hätte sich in das brennende Gebäude gestürzt, um ihr Fischmesser zu retten, während sie, um das Leben eines Babys zu retten, einen Augenblick länger gezögert hätte. Das war schrecklich von ihr. Aber damit hatte sie ihren Frieden geschlossen. Glynis – sowohl die Vorher- als auch die Nachher-Glynis – scherte sich nicht darum, ob sie einen guten oder schlechten Eindruck hinterließ. Form war für sie immer von Belang gewesen. Tugendhaftigkeit hatte sie einen Dreck geschert. Wenn man’s bedenkt, war sie nie allzu wild gewesen auf andere Menschen, und jetzt musste sie sich nicht mehr verstellen. Das war eine gute Sache: die Befreiung. Sie konnte jetzt genau so sein, wie sie wollte. Sie konnte eine Frau sein, die ein Fischmesser retten und ein Baby zurücklassen würde.
    Das Metall war alles, was sie vorzuweisen hatte.
    Warum gab es nicht mehr von ihrer Kunst? Das Seltsame daran war Folgendes: Jahrelang war sie sich insgeheim wie eine Dilettantin vorgekommen. Die anderen, die Pfuscher wie Petra, ihre eigene Familie, die sie aus einem brennenden Haus nicht retten würde, glaubten, sie hätte keine Ahnung, wie man sie hinter ihrem Rücken nannte: Hobbykünstlerin; oder, was sogar noch schmeichelhaft war, Exkünstlerin. Natürlich wusste sie das. Aber was den Leuten nicht klar war: Genauso dachte sie ja über sich selbst. Mit Verachtung. Doch hier an dieser kargen Endstation überkam sie nun die nutzlose Erkenntnis, dass sie es doch ernst gemeint hatte – dass sie es die ganze Zeit ernst genommen hatte. Dass sie die Torten, die Fußböden, die Kinder nie allzu sehr geschätzt hatte, oder zumindest anders. Das gekrümmte Fischmesser, die gekordelten Essstäbchen aus Sterlingsilber, die schlanke Eiswürfelzange mit ihrer wunderbaren Einlegearbeit aus Kupfer und Titan, das dazu passende Salatbesteck mit dem roten Glas in den Griffen, an denen die Flammenarbeit am Silber hinunterlief, als hätte man sich in die Hand geschnitten … Diese Gegenstände bildeten das Zentrum ihres Seins und hatten es immer getan.
    Alle fragten sich, was Glynis durch den Tag rettete, und niemandem hatte sie es je verraten. Sie ging ohne Wasser durch eine Wüste, doch auf der anderen Seite lag die Oase der Nach-Nachher-Glynis – die Frau, die sie immer gewesen war und wieder sein würde, nur besser. Was sie durch den Tag rettete, war die Vision ihrer endgültigen Chemotherapie, es war Goldman, der ihr triumphierend verkündete, dass sie durch sei, dass man ihr das Böse

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