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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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irgendeine Mutprobe, und sie haben mich in den Keller gelockt und in einem Schrank eingesperrt. Sie haben gelacht und sind verschwunden. Kreischend. Aus irgendeinem Grund waren meine Eltern nicht da oder haben mich nicht hören können. Ich hab so laut geschrien, dass mir die Stimme wegblieb. Ich hatte blaue Flecken an den Ellenbogen und Knien, so sehr hab ich gegen das Holz gehämmert. Durch die Tür kam wohl genug Luft rein, dass ich nicht in Gefahr war, zu ersticken. Aber zu der Zeit war ich überzeugt, dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich saß mehrere Stunden eingesperrt in diesem Schrank. Ich habe heute noch Albträume davon.«
    »Was war es denn, wo du rauswolltest, an dem Abend?«, fragte Flicka, aber so, als wenn ihr die Antwort klar wäre.
    »Aus … aus mir selbst. Aus allem. Peinlicherweise muss ich hysterisch geworden sein. Ich habe geschrien: ›Ich will hier raus!‹ Du weißt schon. ›Lasst mich hier raus, ich will raus!‹«
    Glynis’ Imitation ihrer selbst war absichtlich schwach. Ihre Erinnerung war besser, als sie vorgab. Sie hatte Shepherd blutig gekratzt, als er sie festhalten wollte. Die Kratzwunden waren noch nicht verheilt; ihre Fingernägel waren jetzt lockerer. Trotz ihres Keuchens hatte sie irgendwie hyperventiliert, und dadurch war ihr auch noch schwindlig geworden. Da Shepherd alles wieder aufgeräumt hatte, war sie sich nicht sicher, ob nicht auch Gegenstände zu Bruch gegangen waren.
    »Shepherd hat sich total erschrocken«, gab sie zu. »Er hatte Angst, dass ich mich verletze, so wie ich mich hier im Schlafzimmer hin und her geworfen habe. Irgendwann hat er mich runtergedrückt und mir ein Marzipan in den Rachen geschoben, an dem ich fast erstickt wäre.«
    Flicka wirkte wenig beeindruckt. »Dazu noch ein bisschen Gewürge, und das, was du da beschreibst, ist so ziemlich das Gleiche wie ein FD-Anfall. Aber wenn du ›raus willst‹, Glyn – gibt’s nur einen Weg.«
    »Das ist nicht wahr«, erwiderte sie aufsässig. »Ich habe nur noch sechs Mal Chemo, das ist alles. Meine CTs könnten ein bisschen besser sein« – die kaum merkliche Pause diente der Überlegung, dass sie log; seit dem schlechten Ergebnis im September hatte Glynis ihren Mann und den Arzt angewiesen, alle weiteren Ergebnisse für sich zu behalten –, »aber wir können die Krankheit immer noch in den Griff kriegen. Es ist ein Ende abzusehen. Ich kann wirklich geheilt werden. Das ist doch der Punkt.«
    Flicka zog die Augenbrauen hoch, und dass sie welche hatte, machte Glynis neidisch. Flickas Miene war nachsichtig. »Klar. Und das glaubst du auch noch.«
    »Woran soll ich denn sonst glauben?«
    »An die saubere Lösung. Ich weiß nicht, ob die so schlimm ist.«
    »So kannst du doch nicht denken.«
    »Kann ich wohl«, entgegnete Flicka, »und tu ich auch.«
    »Ich verstehe ja, dass man schwarze Momente hat. Das war ja, was ich dir geschildert habe. Aber man muss doch durchhalten.«
    »Das sagen sie einem immer.«
    »Was meinst du damit?«
    »Noch ein Jahr, dann bin ich volljährig. Dann kann ich machen, was ich will.«
    »Ist das eine Drohung?«
    »Eher ein Versprechen. Ich hab’s satt, hier zu bleiben, nur um anderen einen Gefallen zu tun.«
    »Ich tu auch niemandem einen Gefallen, indem ich bleibe«, sagte Glynis leise. »Ich ruiniere das Leben meines Mannes.«
    »Das nehm ich dir nicht ab. Du bist jetzt Sheps Sinn des Lebens, der einzige Grund für ihn, morgens aufzustehen. Ist doch klar. Ist nicht so viel anders als mit meinem Vater.«
    »Shepherd würde lieber auf irgendeiner gottverlassenen Insel leben.«
    »Pemba ist keine gottverlassene Insel. Er hat mir mal Fotos gezeigt. Da gibt’s einen Regenwald und so was. Eigentlich ganz cool.«
    Glynis kämpfte gegen die Wut. Was dachte sich Shepherd dabei, diesem armen Mädchen pornobildmäßig Fotos von einer Insel vor die Nase zu halten, die sie niemals besuchen würde.
    »Aber ich finde trotzdem …«, sagte Flicka. »Na ja, irgendwann reicht’s dann einfach.«
    »An dem Punkt bin ich noch nicht.«
    Flicka zuckte mit den Achseln. »Das musst du selbst wissen.«
    »Ich kann immer noch gesund werden. An manchen Tagen spür ich’s – ich fühle mich besser.«
    Die Miene des Mädchens erinnerte Glynis an ihren Schwiegervater. Sie hatte etwas Pastorenhaftes .
    »Bei mir jedenfalls …«, sagte Flicka, womit sie das vorhergehende Thema unter hoffnungslos verbuchte. »Ich hab so ein Video gedreht, für einen Film für eine Spendenaktion. Für die Stiftung, für

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