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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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eine Offenbarung gepaart mit der vollkommenen Unfähigkeit, sich entsprechend zu verhalten. Wenn jemand wie Petra von ihrer hohen Warte aus nach Wahrheit schrie, hätte sie ihr genau das vor die Nase knallen sollen: Warte nur ab. Deine geliebte Erkenntnis sollst du haben. Aber erst dann, wenn’s zu spät ist.
    PUNKT VIER FUHR der Wagen in die Auffahrt. Mühsam zog Glynis die Haustür auf und versuchte gastfreundlich auszusehen. Da ihre unbrauchbare Familie und die Schönwetterfreunde sie zwangen, sich allein durchzuboxen, hatte sie in letzter Zeit wenig Übung in Gastfreundschaft.
    Carol winkte vom Auto aus, ehe sie Flicka aus dem Beifahrersitz half. Das Mädchen befreite sich aus dem Fahrzeug, indem es sich schwer auf die Schulter seiner Mutter stützte; Flicka wirkte sichtlich schwächer und ungelenker als bei ihrem letzten Besuch. Mager wie eh und je, ohne Busen und mit einer dicken, geschlechtsneutralen Brille auf der Nase, wirkte sie eher wie eine Neunjährige als eine Siebzehnjährige. Als kleines Mädchen war sie fast entzückend gewesen, doch mit zunehmendem Alter war ihr Gesicht immer mehr aus der Form geraten: Die Nase war flacher geworden; das Kinn wölbte sich nach vorn. Trotz ihrer schubweisen Gehässigkeit war Glynis doch nicht so hart – nicht so sehr aus Metall –, dass sie an Flickas Verfall Freude gehabt hätte. Stattdessen spürte sie eine Kameradschaftlichkeit, über die sie erfreut war. Mitgefühl richtete sich ja naturgemäß nach außen, und da es keinen anderen Gegenstand gab, der Glynis’ Mitgefühl wert war, fiel es allzu oft sinnloserweise auf ihre eigene Person zurück.
    Glynis für ihren Teil hatte sich das Fotografieren verbeten. (Und es war verblüffend, wie taktlos die Leute sein konnten und ihr ständig ein Objektiv vor die Nase hielten. Gänzlich blind gegenüber der morbiden Tragweite ihres Impulses, waren die Freunde eifrig darauf bedacht, jetzt, wo sie den Mund voller Geschwüre und keine Haare mehr auf dem Kopf hatte, ihr Abbild für die Ewigkeit festzuhalten. Wie oft waren sie dagegen mit einer Kamera angerückt, als sie noch toll aussah?) Da sie weder Augenbrauen noch Wimpern hatte, war ihr Antlitz konturlos, wie nicht zu Ende gemalt. Na gut, die beklemmende Glätte ihrer Beine erforderte keine Wachsenthaarung mehr. Unbehaarte Unterarme an einer erwachsenen Frau aber hatten etwas Gruseliges. Carol konnte es ihr natürlich nicht ansehen, aber der größte Verlust in Sachen Haar spielte sich weiter unten ab; Shepherd hatte immer ihren üppigen Wuchs gepriesen. Der Anblick einer haarlosen einundfünfzigjährigen Vulva war keine schöne Sache: verschrumpelt, faltig, flatterig und eigentümlich lilafarben. Ästhetik hatte natürlich eigentlich keine Rolle mehr zu spielen, und in Wahrheit hatte Glynis in Bezug auf die Degeneration ihres Körpers eine perverse und obsessive Faszination entwickelt, einen kranken Nervenkitzel. Doch immer wenn sie einen Blick auf ältere Fotos warf – ihr Hochzeitsalbum, ihr offizielles Porträt für die Galerien, die wenigen gerahmten Schnappschüsse von ihren Auslandsreisen –, betrachtete sie dieses vollere, jüngere Gesicht, die majestätische Gestalt, die sie einst abgegeben hatte, und war eifersüchtig. Eifersüchtig auf sich selbst. Heute also, in formlosem Samt und diesen lächerlichen Plüschpantoffeln, die einzigen Schuhe, in die ihre Füße noch passten, kämpfte Glynis mit der Beschämung. Seit ihrer Diagnose wurde sie von dem Gefühl verfolgt, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Das Krankenhaus hatte sich in ihrem Kopf nie von einem Gefängnis unterschieden, und jedes Mal, wenn sie dort eingesperrt war, hatte sie das kafkaeske Gefühl, nicht genau zu wissen, welches Vergehens man sie beschuldigte.
    Carol dagegen sah umwerfend aus.
    Carol zu hassen hätte wenig Sinn.
    »Hey, Glynis!«, greinte Flicka und breitete die Arme aus. Für Glynis war es, als umarmte sie ihren eigenen Oberkörper – all die kleinen, vogelhaften Knochen, die am Rücken des Mädchens zu spüren waren. Sie waren vom gleichen Schlag. Flicka war kleiner, aber sonst hatten sie die gleichen Maße.
    »Sie ist eigentlich nicht gesund genug für einen Ausflug nach Westchester«, sagte Carol bei der Umarmung. »Aber sie wollte unbedingt.«
    »Willst du mit rauf in mein Nest?«, sagte Glynis einladend.
    »Klar«, lallte Flicka. »Aber nur, wenn du dein verdammtes Kochfernsehen ausmachst.« Zum Glück bewegten sich Flickas hohe nasale Töne in einer Frequenz, die Glynis

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