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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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worden, als in Zeiten wie diesen Humor zu beweisen. »Ja, so was Ähnliches«, sagte er. »Als du damals aus Bosheit diesen Halbzeitjob angenommen hast, hatte ich die Bemerkung gewagt, wie schade es sei, dass du nicht wenigstens einen kleinen Beitrag zu unserem Einkommen geleistet hast. Aber jetzt kannst du einen großen Beitrag dazu leisten. So gesehen kannst du alles wiedergutmachen. Du kannst uns eine goldene Nase verdienen.«
    »Kapier ich nicht.«
    »Ich hab’s verstanden, was du mir gerade erzählt hast. Dass du an der Kunstschule gewarnt worden bist wegen dieser Produkte, dass sie aus dem Verkehr gezogen wurden, noch bevor eure Kurse losgingen. Dass du genau wusstest, dass sie Asbest enthalten. Dass du trotz aller Warnungen deiner Professorin, die von Forge Crafts eigener Verkaufsabteilung über eine bevorstehende Rückrufaktion unterrichtet worden war, dieses Material geklaut hast. Ich glaube, du hast recht, wenn du das alles aussagen würdest, wären unsere Chancen auf einen fetten Schadensersatz gleich Null. Aber deine Kunstschule hat vor Jahren dichtgemacht. Selbst wenn sie danach noch woanders gelehrt haben sollte, ist Frieda Luten wahrscheinlich längst im Ruhestand, und wer weiß, wo. Keine deiner ehemaligen Kommilitonen ist in diesem Fall aufgetaucht. Petra könnte sich noch an dies und jenes erinnern, aber sie ist deine Freundin und wird den Mund halten. Nur wir beide wissen, was wirklich passiert ist. Also möchte ich, dass du morgen deine Aussage machst, und zwar mit vollem Einsatz. Und ich möchte, dass du lügst .«
    PÜNKTLICH UM NEUN Uhr begann in einem sterilen Konferenzraum in Lower Manhattan die Aussage unter Eid. Shep setzte sich auf einen der Plätze an der Wand, während Glynis den heißen Stuhl am Kopf des ovalen Tisches einnahm; mehr als zugegen sein und gelegentlich auf eine Pause drängen konnte er zu ihrer Unterstützung nicht tun. Die Kamera zu ihrer Linken starrte von ihrem Dreibein hinunter und würde jedes Zögern, jedes Abwenden der Augen, jedes verräterische Kratzen an der Nase aufzeichnen. Forge Craft brachte ein Team von vier Anwälten mit, alles Männer, alle vorsätzlich arrogant. Nachdem Glynis damit fertig war, die Produkte aus der Erinnerung zu beschreiben und detailliert zu schildern, wie sie damals bei welchem Vorgang zur Verwendung gekommen waren, begann ihr Anwalt mit der Befragung.
    Rick Mystic, das Ergebnis einer halbherzigen Internetsuche nach dem passendem Rechtsbeistand, war erst Mitte dreißig, und Shep hatte gelernt, seine Besorgnis darüber abzulegen, dass er noch ein halbes Kind war; wenn er jedem misstraute, der jünger war als er selbst, könnte er bald niemandem mehr trauen. Mystic hatte das wohlproportionierte, kantig gute Aussehen, das durchaus fernsehtauglich gewesen wäre; eine Hauptdarstellerin in flachen Schuhen hätte darüber hinweggetäuscht, dass er klein war. Angeblich hatte er einen Lieblingsonkel, der an Asbestose gestorben war, und so hatte sein Spezialgebiet etwas von einer persönlichen Mission. Auch wenn Philanthropie allein nicht die treibende Kraft des jungen Mannes in seinem edlen Anzug sein konnte, dachte sich Shep, dass sie Rick Mystics Geldgier ähnlich wie Philip Goldmans Ego für ihre Zwecke nutzen konnten. Altruismus befand sich schließlich eher ganz unten auf der Liste menschlicher Triebfedern.
    Von allgemeinen Vorurteilen abgesehen, waren Sheps hauptsächliche Bedenken gegen ihren Anwalt lächerlich dekorativ: Mystics verwendete die Füllwörter »sozusagen« und »ziemlich« zwei- bis dreimal pro Satz. Klar, der sprachliche Tick war weit verbreitet, doch diese zeitgenössische Neigung zur unablässigen Qualifizierung verlieh allen Behauptungen eine ärgerliche Verschwommenheit, etwas Ausweichendes, eine verdächtige Unbehaglichkeit, sich festlegen zu lassen. Der Tisch da wäre niemals »braun«; er wäre »sozusagen« braun, und was sollte das bitte für eine Farbe sein? Und dann hatte der Tick bei einem Anwalt eine dem Berufsstand widersprechende Ungenauigkeit und lief außerdem im Fall von Glynis’ Aussage auf eine surreale Untertreibung hinaus: Ob sie seit ihrer Krankheit nicht »sozusagen arbeitsunfähig« gewesen sei?
    »Nein, ich kann nicht arbeiten«, entgegnete Glynis. Ihre Sätze waren stichhaltig, wobei jeder zweite von einem Husten und einer rasselnden Verschnaufpause begleitet war. »Und ich habe es versucht. Ich kann mich nicht mal auf eine einzige Folge von Alle lieben Raymond konzentrieren. Also gucke ich

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