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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte, zog er entschuldigend eine Augenbraue hoch und hob den Zeigefinger. Sie wirkte auf einmal so erschöpft, dass ihr ein paar Minuten Ruhe vielleicht ganz recht wären. Er ging hinüber in die Diele. Während die Stimme weitersprach, hatte er Angst, dass das hysterische Weinen durch den Hörer und zu Glynis dringen könnte, und so ging er hinaus auf die vordere Veranda. Es war kalt draußen, doch es hatte sich eine solche Kälte in ihm ausgebreitet, dass sein Blut die Temperatur der Luft angenommen hatte, wie bei einem Reptil.
    MAN KONNTE DURCHAUS behaupten, dass Shepherd Armstrong Knacker ein anderer Mensch war, als er ins Zimmer zurückkam. Um des wenigen willen, was von seinem Eheleben noch übrig war, hätte er sich gewünscht, dass sein sofortiger Entschluss, seine gebrochene Frau vor einer gewissen Nachricht zu schützen, im Mittelpunkt seiner Verwandlung gestanden hätte. Doch seit er im Internet ihre Prognose gelesen und die Information wie eine ganz eigene Krebserkrankung für sich behalten hatte, seit er auf ihren verwirrenden Wunsch hin die Ergebnisse der CTs vor ihr geheim gehalten hatte, war es ihm zur Gewohnheit geworden, Glynis vor wichtigen Informationen zu schützen. Durch das Nichterzählen war er, und zwar schon seit Langem, zu Hause zum Lügner geworden.
    Doch in der Öffentlichkeit war er bis zu diesem Telefonat nie unehrlich gewesen. Seine Steuererklärung war immer akribisch gewesen, und er hatte selbst Zahlungen angegeben, die ihm mit einem Augenzwinkern in bar zugeschoben worden waren. Anders als seine tragisch langfingrige Frau hatte er Pogatchnik nicht um einen einzigen Schraubenzieher erleichtert. Er hatte mit der Morgentau-Residenz einen Vertrag unterschrieben; durch sein Wort gebunden, hatte er nie ernsthaft in Erwägung gezogen, die monatlichen Zahlungen einzustellen und der Einrichtung selbst oder dem Staat die unschöne Aufgabe zu überlassen, das Haus in Berlin gegen den Willen seiner Schwester zu verkaufen und mit dem Gewinn die ausstehenden Rechnungen zu begleichen.
    Jahrzehntelang hatte er sich von seinem besten Freund als »arme Sau« beschimpfen lassen – wahlweise auch als Dumpfbacke, Prügelknabe, Volltrottel, Sklave, Depp oder Lakai, je nachdem, welchen absurden Modebegriffs sich der Mann gerade bediente. Während Shep bisweilen zugab, dass seine Steuergelder nicht ausschließlich Zwecken zugeführt wurden, die er persönlich unterschrieben hätte, waren Jacksons Schimpfkanonaden über die wahre Trennung der Gesellschaft in Nehmende und Ausgenommene bei ihm stets auf taube Ohren gestoßen. Für Shep waren die Tiraden einfach nur erheiternd gewesen, eine amüsante Zerstreuung, um sich auf den Runden durch den Prospect Park die Zeit zu vertreiben.
    Jetzt aber waren sie zum Erbe seines besten Freundes geworden. Abgesehen von einem kranken und einem verfetteten Kind sowie einer Frau mit übernatürlicher Selbstbeherrschung, die nun endlich gebrochen worden war, stellte die Erinnerung an diese Hetzreden seine einzige Hinterlassenschaft dar. Sie zu ehren bedeutete, nach ihnen zu handeln. Einmal in seinem Leben würde Shep Knacker dafür sorgen, dass Jackson stolz auf ihn war.
    Glynis hatte sich am Ende der Couch zusammengerollt. Shep kniete sich vor sie hin und bog sie sanft auseinander, ähnlich wie man eine geschlossene Blüte öffnet, wenn man die Blätter nicht beschädigen will. »Gnu«, sagte er monoton und nahm ihre Hände. »Setz dich mal auf, ja? So. Ich möchte jetzt, dass du mir zuhörst. Schau mich an, ja? Es ist alles in Ordnung, ich bin dir nicht böse. Ich verstehe, wie schwer es war, dieses Geheimnis so lange mit dir herumzutragen. Aber ich trage auch ein paar Geheimnisse mit mir herum. Und die sind nicht viel leichter.«
    Er wartete, bis sie seinem Blick begegnete.
    »Du weißt, dass es uns ziemlich gut ging nach dem Verkauf der Firma und nachdem sich unsere Anlagen nach der Dotcom-Blase und 9/11 wieder erholt hatten. Nur deswegen konnte ich überhaupt verkünden, dass ich nach Pemba gehen würde, mit dir oder ohne dich. Wir hatten das Geld dafür. Gut, mein Timing war schlecht, und das ist noch untertrieben. Aber Glynis, deine Behandlungen waren sehr teuer. Diese beiden Spezialisten an der Columbia-Presbyterian sind nicht im Vertragsnetzwerk. Ich habe die ganze Zeit versucht, dir den Rücken freizuhalten, damit du dich auf deine Genesung konzentrieren kannst. Aber ich denke, allmählich solltest auch du Bescheid wissen.

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