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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Kochsendungen. Meine Aufmerksamkeitsspanne entspricht in etwa einem Rezept für Ziegenkäsebruschetta.«
    »Und würden Sie sagen«, fragte Mystic, »dass Sie ziemlich kontinuierlich Schmerzen haben?«
    »Mir ist oft schlecht«, sagte sie, »ich kriege kaum Luft. Ganz ehrlich, mir nur ein Glas Wasser zu holen fällt mir heute schwerer, als früher im Fitnessstudio eine Stunde Step-Aerobic zu machen. Und ich habe im wahrsten Sinne des Wortes kein Privatleben mehr. Ständig bekomme ich Spritzen in den Arm, Röhrchen in den Hals und Kapseln in den Darm geschoben. Mein Leben ist eine einzige große Vergewaltigung. Früher, da habe ich meinen Körper geliebt. Vor einem Jahr noch, mit fünfzig, war ich immer noch schön. Jetzt hasse ich meinen Körper. Er ist ein einziges Horrorkabinett. Eigentlich hätte ich eine Lebenserwartung von achtzig Jahren gehabt. Inzwischen glaube ich, dass diese Zahl … erheblich kleiner geworden ist.«
    Von allen Versammelten erkannte allein Shep, was das für ein Zugeständnis war.
    Danach versuchten die verteidigenden Anwälte abwechselnd, ihre Aussage infrage zu stellen. Sie zählten jede Menge alltäglicher Materialien auf, mit denen sie seit der Kunstschule in Berührung hätte kommen können, aber sie schlug die Fragen zurück wie bei ein Baseballspieler: Ob sie so aussehe, als würde sie sich zu Hause ihre Wärmedämmung selbst einbauen?
    Indem er dieselbe Faserntheorie anführte wie ihr erster Onkologe, brachte einer der Anwälte die Handwerkerfirma ihres Mannes ins Spiel, wo er doch sicherlich mit, sagen wir, Asbest angereichertem Zement gearbeitet haben musste. Abgesehen davon, dass in den Jahren ihrer Ehe Shep hauptsächlich in leitender Position gewesen sei, behauptete Glynis schelmisch, dass sie während der vorhergehenden Zeit seiner Hausbesuche keine Lust gehabt habe, ihren Mann zu umarmen, »bevor er nicht geduscht« hatte. Zudem sei der Kontaminationsweg viel zu umständlich. »Die einfachste Erklärung ist meist die beste. Ich hab’s sogar noch mal im Internet recherchiert.« Glynis las von ihren Notizen ab. »Steht man vor der Wahl mehrerer Erklärungen, die sich alle auf dasselbe Phänomen beziehen, soll man diejenige bevorzugen, die mit den einfachsten bzw. der geringsten Anzahl an Annahmen auskommt. Also ist es gar nicht nötig, ein aufwendiges Szenario zu konstruieren, dem zufolge mein Mann – der sich ja im Übrigen keine mit Asbest zusammenhängende Krebserkrankung zugezogen hat – mit Asbest gearbeitet, Asbest an der Kleidung gehabt, mich umarmt und die Fasern auf meinen Sachen hinterlassen hat, damit ich sie logischerweise einatme, wo ich einfach selbst mit Asbest gearbeitet habe!«
    Sicherlich, sagte ein anderer Anwalt spöttisch, läge ihre Ausbildung doch so lange zurück, dass sie sich unmöglich an die einzelnen Produkte erinnern könne, mit denen sie gearbeitet habe, und an deren Hersteller.
    »Im Gegenteil«, sagte Glynis und nahm jene majestätische Haltung ein, mit der sie ihren Mann oft gleichzeitig in Rage gebracht und betört hatte. »Ich hatte gerade angefangen, mein Handwerk zu lernen, mir die ersten Inspirationen zu holen. Es war eine anregende Zeit in meinem Leben damals« – sie hielt inne und musste wieder husten – »im Gegensatz zu dieser, leider. Also habe ich noch sehr genaue Erinnerungen daran, so wie Sie sich vielleicht noch mit ungewöhnlicher Klarheit erinnern, wie es war, als Sie sich das erste Mal verliebt haben. Und ich hatte mich verliebt. Es waren die Jahre, in denen ich mich ins Metall verliebt hatte.«
    Mehr als ein Mal war Shep dem oberflächlichen Sinnspruch begegnet, dass man immer genau das töte, was man liebt; die Umkehrung dessen war ihm bislang jedoch noch nicht untergekommen; dass man vom dem, was man liebt, getötet wurde.
    »Und dann«, fuhr Glynis fort, »lagen im Atelier, bei den Lehrbüchern und Fachzeitschriften auf dem Regal neben der Standbohrmaschine, immer Kataloge von Forge Craft. Ich habe immer in den Katalogen geblättert, weil ich mir nach dem Abschluss ja ein eigenes Atelier einzurichten hoffte. Ich weiß noch, wie erschrocken ich war über die Preise. Wie besorgt ich war, ob ich mir jemals eine eigene Poliermaschine, einen eigenen Satz Hammer, einen eigenen Schleudergussapparat würde leisten können. Damals hatte Forge Craft landesweit ja praktisch das Monopol auf den Verkauf von Schmiedematerialien. Deswegen konnte die Firma unbesorgt astronomische Preise für ihre Produkte verlangen. Von wem hätte

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