Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Zusammenhang mit der Erkrankung eher der allgemein gedrückten Stimmung bei schlechtem Wetter. Und so war es, als hätte der Doktor verkündet, dass sie gegen einen Schneesturm oder gegen Windböen »in den Krieg ziehen« würden.
»Na ja, ich wollte nicht pessimistisch klingen, und es gibt bestimmt alle möglichen Ausprägungen …« Pflichtschuldig machte Shep seinen Rückzieher. Dennoch staunte er. Angesichts ihrer Erbitterung, ihrer Trotzhaltung, ihrer Düsternis – eigentlich war er doch derjenige von beiden, der zu dem von Knox propagierten Optimismus neigte –, hätte er Glynis eher zum Nach-unten-Scroll-Typus gezählt. Zweifellos gab es einiges, was er im Verlauf dieser Krankheit noch über sie herausfinden würde. Vielleicht lernte man einen Menschen erst dann wirklich kennen, wenn er dem Tod geweiht war.
Da er nicht »vorpreschen« durfte, ruderte Shep also zurück.
»Asbest«, sagte er. Es kam ihm eigenartig vor, dass sie schon so lange dieses Gespräch führten, ohne dass das Wort gefallen war. »Mesotheliom wird fast ausschließlich mit Asbest in Verbindung gebracht. Wie kann meine Frau mit Asbest in Berührung gekommen sein?«
»Ihre Frau und ich haben uns darüber schon unterhalten, und ich fürchte, wir haben das Rätsel nicht gelöst. Sie sagte, ihres Wissens nach habe sie nie mit dem Material gearbeitet. Und ich gehe nicht davon aus, dass Sie sich zu Hause eine neue Wärmedämmung haben einbauen lassen. Aber früher war es so weit verbreitet … und es reicht schon, eine einzige Faser einzuatmen oder zu verschlucken … Mesotheliom hat eine Latenzzeit von zwanzig bis fünfzig Jahren. Dadurch wird es unglaublich schwierig, ein bestimmtes Produkt als Ursache der Krankheit zu identifizieren. Aber spielt das denn überhaupt eine Rolle?«
»Für mich schon«, sagte Glynis hitzig. Bislang hatte sie sich so duldsam gegeben; in ihrer aufkeimenden Wut klang sie endlich wieder wie sie selbst. »Wenn Ihnen irgendein wildfremder Mensch auf der Straße ein Messer in den Bauch rammt, würden Sie dann nicht wissen wollen, wer es war?«
»Vielleicht …«, sagte Dr. Knox. »Aber wichtiger wäre mir, schnell ins nächste Krankenhaus zu fahren und mich wieder zusammenflicken zu lassen. Wenn das Unglück durch die Faktoren ›falsche Zeit, falscher Ort‹ ausgelöst wurde, wäre die Frage nach dem Schuldigen – oder in diesem Falle nach dem, was schuld ist – eher müßig.«
»An meiner Frage ist überhaupt nichts müßig «, sagte Glynis. »Da ich erst wie ein Fisch aufgeschlitzt und ausgenommen und dann mit Medikamenten vollgepumpt werden soll, von denen mir kotzübel wird und ich eine Glatze kriege und den ganzen Tag schlafen muss – wenn ich Glück habe –, würde ich schon ganz gerne wissen, wer mir das angetan hat.«
Der Onkologe kaute an seinem Wangenfleisch. Ohnmächtige Wut war in dieser Praxis gewiss nichts Neues. »Vielleicht hätte ich schon früher fragen sollen. Was machen Sie beruflich, Mr Knacker?«
»Ich leite – ich arbeite in einer Firma für Handwerksservice. Das heißt, wir stellen die Handwerker zur Verfügung. Und das Material …«
Der Arzt verengte die Augen. »Haben Sie solche Arbeiten auch selber ausgeführt oder führen sie noch immer selber aus?«
Handwerker klang billig – für seinen Vater hatte das Wort immer den Beiklang von Arbeiterklasse gehabt, und Jackson beispielsweise hatte alle möglichen protzigen Euphemismen erfunden, um es zu vermeiden – doch Shep war nicht bereit, sich seines Berufes zu schämen. Auch wenn Glynis auf Dinnerpartys eher seine Managerfunktion hevorhob, hatte körperliche Arbeit für ihn nichts Ehrenrühriges. Ehrenrührig war für ihn eher, jahrelang hinter einem Schreibtisch vor sich hin zu gammeln. »Sicher, natürlich.«
»Und haben Sie da mit Dämmmaterial oder Zementprodukten gearbeitet … Feuerschutzmitteln, Schallschutzmitteln, Dachmaterialien … Gullys, Regenrinnen … Vinylböden, Gips … Wassertanks?«
Shep wurde ein klein wenig stutzig, er ahnte, dass dies der Punkt war, an dem gewiefte Kriminelle vor der Polizei die Aussage verweigern. Die Unschuldigen hingegen glaubten, nichts zu verbergen zu haben, und schütteten idiotischerweise ihr Herz aus. »Mit allem, zum einen oder anderen Zeitpunkt. Wieso? Ich hab Glynis nie zur Arbeit mitgenommen. Wenn irgendeines dieser Materialien Asbest enthalten haben sollte, wäre dann nicht eher ich krank geworden?«
»Möglich wäre, dass Sie Fasern an der Kleidung nach Hause
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