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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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überhaupt keine Meinung. Dabei hatte er nichts gegen Ideologen; Jackson hatte für ihn etwas durchaus Unterhaltsames. Er war froh, dass seine Frau wählen durfte und dass die Schwarzen nicht länger separate Trinkbrunnen benutzen mussten. Es war bestimmt auch eine sehr gute Sache, dass ein paar Draufgänger für die Dämonisierung von Asbest gesorgt hatten, weshalb seine eigenen Mitarbeiter nun keine potenziell tödlichen Wärmedämmungen mehr verlegen mussten und dafür von ihren Ehefrauen in die schreckliche Rolle des Kontaminators gesteckt wurden.
    Doch er hatte zudem ein Unternehmen gegründet, und hatte damit eine gewisse Vorstellung von dem, was ein Unternehmen war: weder Ungeheuer noch Abstraktion. Ein Unternehmen war eine Ansammlung von Menschen – einschließlich des einen oder anderen schlampigen Angestellten oder gnadenlos geldgeilen Eiferers, der im Alleingang jahrzehntelang die kollektive Sorgfalt untergrub. Und doch war ein Unternehmen auch eine Einheit, die von jemandem geliebt wurde. Nicht, dass er schlechte Praktiken entschuldigen wollte, aber ein Firmenvergehen war sowohl eine vielschichtige als auch zutiefst persönliche Sache. Angesichts dieser komplizierten Lage konnte er nicht nachvollziehen, was man davon haben könnte, mit dem Finger auf »eine Firma« zu zeigen, noch viel weniger auf »die Industrie«. Siehe Glynis. Statt auf »die Industrie« zu schimpfen, verschaffte es ihr offenbar weitaus mehr Genugtuung, einen konkreten Schuldigen zwischen die Finger zu bekommen.
    Er fragte sich, ob Edward Knox irgendeine Vorstellung davon hatte, wie quälend der Hinweis war, dass sich Glynis ihren Krebs bei einer Umarmung zugezogen haben könnte.
    Aber wenn es ihr half, wenn sie danach hungerte, sich selbst eine Geschichte zu erzählen, konnte Shep ihr den Dienst erweisen und sich in die Rolle des Bösewichts fügen.
    »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, dass Asbest so tödlich sein kann. Oder dass es in all den Materialien enthalten ist, die dein Doktor aufgezählt hat. Aber du hast recht. Ich hätte die Zeitungsartikel lesen sollen. Vor der Arbeit mit irgendeinem Produkt hätte ich mir die Inhaltsstoffe ansehen müssen. Es war unverantwortlich.« Letzteres Adjektiv blieb ihm ein wenig im Halse stecken, da es zuvor nie auf ihn gepasst hatte, weder in seinen Augen noch in denen anderer. »Und jetzt musst du dafür büßen. Das ist nicht fair. Eigentlich hätte ich krank werden müssen. Ich wünschte, ich könnte dir die Last abnehmen.«
    Er wusste nicht genau, ob er das wirklich wollte. Doch vermutlich würde es über kurz oder lang so sein, und das sollte genügen.
    ALS SIE WIEDER zu Hause waren, verkündete Glynis, dass sie nicht sehr hungrig sei, aber Shep drängte darauf, dass sie etwas essen müsse, um bei Kräften zu bleiben. Obwohl er wusste, dass es ihr zeit ihres Lebens ein Gräuel war, wagte er sogar den Vorschlag, dass sie vor dem Eingriff versuchen sollte, ein wenig zuzunehmen. Nach der gewaltsamen Szene in der Fort-Washington-Parkgarage – niemand hatte die Hand gegen den anderen erhoben, dennoch war es Gewalt gewesen – waren sie still, gingen sich mit übertriebener Rücksicht aus dem Weg. Shep erklärte sich freiwillig bereit, das Abendessen zu kochen, was nicht zu seinen üblichen Pflichten gehörte. Er wollte damit nicht andeuten, dass er Buße tat; er wollte damit andeuten, dass die Zubereitung einer einzigen Mahlzeit nur der Beginn einer sehr langen Bußezeit war, die von noch mehr Gesten und Opfern und noch sehr viel mehr Mahlzeiten geprägt sein würde. Sie hatte keine Lust zu streiten und eigentlich auch keine Lust zu kochen und überließ ihm das Feld.
    »Papa kocht?«, fragte Zach und schlurfte in die Küche. Ob nun alters- oder charakterbedingt, ihr fünfzehnjähriger Sohn war in einer Phase, in der er nach Unsichtbarkeit strebte. Er wandte sich zu seinem Vater, der Kartoffeln schälte. »Was hast du denn angestellt?«
    Die treffsichere Intuition, die Kinder gelegentlich an den Tag legen, beeindruckte Shep jedes Mal aufs Neue und machte ihn nervös. »Womit soll ich anfangen?«
    Sie hatten beschlossen, den Kindern von der Krankheit erst dann zu erzählen, wenn sie genauer wüssten, was sie erwartete, und die Diagnose außerdem durch eine Zweitmeinung bestätigt wurde. Oder zumindest war das der Vorwand; zweifellos wollten sie die scheußliche Szene auch einfach nur aufschieben. Zach aber ahnte, dass irgendwas im Busch war. Da er fast nie mehr zusammen mit

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