Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
stieg in ihm auf. Er wollte jetzt keinen Händedruck und dann im Auto sitzen und merken, wie das Fehlende, das Ungesagte, die feigen Ausflüchte wie giftige Auspuffabgase das Wageninnere füllen würden. Aber ebenso wenig konnte er verstehen, warum ausgerechnet er die Frage stellen musste. Glynis hatte das Problem vielleicht schon mal zur Sprache gebracht, dann aber von der Quintessenz nichts durchblicken lassen, was eigentlich unmöglich war.
Bei seinem Versuch, sich im Eiltempo über eine Krankheit zu informieren, von der er vor vergangenem Freitag noch nie etwas gehört hatte, hatte Shep am Wochenende stundenlang vor dem Computer gesessen. Man müsse den Feind kennen, hatte er sich gesagt. Auf einer medizinischen Website, lange nach der geduldigen, überfürsorglichen Erklärung eines jeden Tests und einer jeden Behandlung, mit der ein Mesotheliom-Patient zu rechnen hatte, war er auf einen Abschnitt mit der Überschrift »Überlebensrate« gestoßen. Nachdem er ewig draufgestarrt hatte, konnte er den ersten Absatz fast auswendig:
Auf der folgenden Seite finden Sie detaillierte Informationen über die Überlebensrate bei verschiedenen Stadien des Mesotheliom, die wir hier auf vielfachen Leserwunsch zur Verfügung stellen. Nicht jeder Krebspatient möchte sich diesen Informationen aussetzen. Sollten Sie sich in dieser Hinsicht gegenwärtig nicht sicher sein, überspringen Sie diese Seite . Sie können zurückkehren.
Sein erster Eindruck war, dass die Autoren des Textes den Leser bevormunden wollten. Sein erster Impuls war, nach unten zu scrollen. Er hatte seinen Problemen bislang immer ins Auge gesehen. Aber in diesem Fall war es anders, wenn auch nur, weil er nicht persönlich betroffen war. In manchen Punkten würde ihn der Krankheitsverlauf vermeintlich betreffen, aber das musste er im Hinterkopf behalten. Während dieser Absatz auf dem Bildschirm flimmerte, war das, was in seinen Eingeweiden gedieh, zweifellos das schiere Entsetzen. Er griff nach der Maus. Er zog seine Hand von der Maus zurück. Er scrollte nicht nach unten. Er folgte dem Rat, die Seite zu überspringen, und kehrte drei Mal an dieselbe Stelle zurück. Er scrollte kein Mal nach unten. Er war noch nicht so weit. Hier in dieser Praxis aber, mit diesem Arzt, der all diese zwecklose Freundlichkeit in seine Stimme legte, war es Zeit, nach unten zu scrollen.
»Wie stehen ihre Chancen«, sagte Shep so bleiern, dass er nicht in der Lage war, die Stimme anzuheben, um den Satz als Frage zu kennzeichnen. »Wie lange.« Unklarheiten konnte man an diesem kritischen Punkt nicht gebrauchen. Er bildete den vollständigen Satz: »Wie lange hat meine Frau noch zu leben.«
Doch es war Glynis, die sprach. »Das kann man so nicht sagen. Jeder Patient ist anders, du hast doch gehört, was der Doktor gesagt hat. Jeder Patient reagiert anders, und wie er gerade sagte, kommen ständig neue Medikamente auf den Markt.«
Dr. Knox blickte hastig zwischen beiden hin und her; er schien das Paar genau zu taxieren. »Es ist wichtig, immer optimistisch zu bleiben. Ich bin schon oft zu einer spezifischen Prognose gedrängt worden, und selbst wenn ich nachgegeben habe, kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich schon unrecht hatte. Wie oft habe ich vorhergesagt, dass ein Patient noch soundso viel Zeit haben würde, und dann stellte sich heraus, dass er Jahre nach dem Tag, an dem ich Blumen ans Grab schicken wollte, seinen besten Freund im Squash an die Wand spielt.«
»Und es hilft doch auch, meinten Sie«, sagte Glynis, »dass ich von vornherein bei sehr guter Gesundheit bin. Ich bin nicht übergewichtig, meine Cholesterinwerte sind gut, ich mache Sport, ich habe keine erschwerenden Leiden, und ich bin gerade mal fünfzig.«
»Absolut richtig«, pflichtete Dr. Knox ihr bei. »Sich auf ein bestimmtes verhängnisvolles Datum einzustellen ist, wie in den Krieg zu ziehen und schon im Vorhinein festzulegen, an welchem Tag die Niederlage stattfinden soll. Mit der Medizin ist es wie mit dem Militär: Es ist die positive Einstellung, mit der man Resultate erzielt.«
Shep kannte dieses Gerede von Krankheit als bewaffnetem Konflikt: Der »Kampf« gegen den Krebs, bei dem die Patienten als »echte Kämpfernaturen« bezeichnet wurden, denen ein »Arsenal« an Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stand, um bei einer »Invasion« von bösartigen Zellen »die Oberhand zu gewinnen«. Doch die Analogie fühlte sich falsch an. Seiner geringen Erfahrung nach glich das Gefühl im
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