Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
seinen Eltern aß, glich sein Herumschleichen in der Küche einer Spionagemission, und sein Blick in den Kühlschrank hatte eher Alibifunktion.
Shep war dankbar für einen Dritten, der die angespannte Atmosphäre auflockerte und das Bild einer ganz normalen Familie etablieren half – ein hungriger Teenager auf Nahrungssuche und die beiden Eltern, die nach einem Brosamen aus der wohlbehüteten Speisekammer seines Privatlebens bettelten. Eine triviale Szene, die bald schon der Vergangenheit angehören würde. In den kommenden Monaten würde Zach lernen müssen, ein »guter Sohn« und somit ein künstlicher Sohn zu sein.
»Geht’s auf die Piste?«, fragte Shep.
»Nö«, sagte Zach – den seine Freunde nur »Z« nannten. Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Zachary Knacker getauft, bevor sie den Jungen kannten. Die Tonfolge hatte ihnen gefallen, das dampflokartige Klackerklacker, das sich für den Träger anhörte »wie eine Figur aus einem Kinderbuch«. Der Name war zu auffällig für einen Jungen, der alles tat, um sich bedeckt zu halten, und so kauerte er jetzt in Form eines kryptischen Einzelbuchstabens am Ende des Alphabets.
»Aber heute ist doch Freitag!«, sagte Shep, obwohl er es besser wusste. Zach ging nie weg. Er blieb in seinem Zimmer. Seine seltenen Exkursionen beschränkten sich auf die Zimmer anderer Jungen. Sie lebten alle online und verbrachten Stunden mit Computerspielen, ein Zeitvertreib, der Shep anfangs fast zur Verzweiflung getrieben hatte, bis er erkannte, worum es dabei eigentlich ging. Weder Blut noch Eingeweide noch Aggressivität machten den Reiz aus. Damals, als er noch Freizeit hatte – wann konnte das gewesen sein? –, hatte Shep gern Kreuzworträtsel gelöst. Er war nie sehr gut darin gewesen, aber das war nur von Vorteil; so hatte er länger was davon gehabt. Lachhaft untechnisch im Vergleich, war der Reiz der Kreuzworträtsel jedoch der Gleiche gewesen. Der Lohn all dieser Spiele war die Konzentration, Fokus als Selbstzweck; auf was, spielte keine Rolle. Dagegen konnte man nichts sagen, und so hielt er sich zurück.
»Ist ’n Abend wie jeder andere«, sagte Zach und schob eine Pizzatasche in den Toaster. Er war schlaksig und konnte sich das Fett erlauben. Shep schälte die letzte Kartoffel und nahm seinen Sohn in Augenschein. Das Gesicht des Jungen wuchs wild in alle Richtungen, die Stirn war zu breit, die Lippen zu voll, das Kinn zu klein; alles war unproportioniert wie das Auto eines Bastlers. Wie gern hätte Shep seinen Jungen getröstet, dass sich diese Aspekte in zwei bis drei Jahren zu der starken eckigen Gesichtssymmetrie seines Vaters zusammenfügen würden. Aber er wusste nicht, wie, ohne sich scheinbar selbst zu loben, und indem er Zach versprach, dass er bald gut aussehen werde, würde er ihm außerdem suggerieren, dass er jetzt hässlich sei.
»Hey, Mama.« Zach sah seine Mutter von der Seite an, die in einem spitzeren Winkel als sonst am Frühstückstisch saß. »Bist du müde? Ist doch erst sieben.«
Sie lächelte schwach. »Deine Mutter wird alt.«
Shep merkte, dass dem Jungen die glückliche Familiennummer mit einem Mal zu viel wurde. Zach wusste nichts davon, dass sein Vater noch vor einer Woche drauf und dran gewesen war, sich an die afrikanische Ostküste abzusetzen, und er wusste nicht, dass man bei seiner Mutter gerade eine seltene und tödliche Krebsart diagnostiziert hatte, und noch viel weniger wusste er, dass seine Mutter seinem Vater die Schuld an der Krankheit gab. Diese bewusst unausgesprochenen Dinge aber wirkten wie die hochfrequenten Schallwellen, mit denen Lebensmittelmärkte vor ihren Ladenfenstern die Obdachlosen zu vertreiben suchten. Was abgestumpfte Erwachsenenohren nicht mehr wahrnahmen, war für Pubertierende unerträglich. Noch bevor sie heiß war, holte Zach seine Pizzatasche aus dem Toaster und nahm sein Abendessen zwischen einem Stück Küchenrolle mit nach oben, wobei er sich nicht einmal die Mühe machte, »bis dann« zu sagen.
Brathähnchen mit Salzkartoffeln und Bohnen. Glynis lobte sein Essen, stocherte aber nur darin herum. »Ich fühl mich dick«, gestand sie.
»Du bist untergewichtig. Das sind nur Wassereinlagerungen. Du musst aufhören, so zu denken.«
»Plötzlich soll ich ein anderer Mensch werden?«
»Du kannst derselbe Mensch bleiben, bloß dass du mehr isst.«
»Dein Hühnchen«, sagte sie, »ist wahrscheinlich nicht das, was mir den Appetit verdirbt.« Das war sicherlich wahr. Angesichts dessen, was mit der
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