Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
mittlerweile allesamt zu den Absahnern. Sie borgten oder klauten sich andauernd Geld, wollten immer alles umsonst haben und ließen eine Menge antikapitalistisches Gewäsch vom Stapel, das sie sich gar nicht leisten konnten ohne ihre fleißigen Eltern, auf deren Kosten sie lebten. Es tat ihm leid um die Jungs, die in Vietnam umgekommen waren. Der Rest war Schwachsinn.
Beryl küsste ihm die Wange und rief: »Shepardo!«, sein Neorenaissance-Kosename aus der Kindheit, in dem noch immer eine gewisse Zuneigung mitschwang. »Mein Gott, ich hoffe, es sieht mich niemand in diesem SUV. Du erinnerst dich, ich hab diesen Film gemacht über die Aktivistengruppe, die als politisches Statement gegen die globale Erwärmung solche Kisten hier zertrümmert.«
Wäre Beryl wirklich um den Kohlenmonoxidausstoß besorgt gewesen, hätte sie den Zug genommen.
»Ist doch bloß ein Mini«, sagte er. »Der verbraucht nichts im Vergleich zu anderen Wagen.«
Sie fragte oberflächlich nach seinem Befinden. Shep war froh, dass sie gar nicht bemerkte, wie ausweichend er reagierte.
»Und, woran arbeitest du gerade?«, fragte er. Es war am sichersten, auf das Thema Beryl zurückzukommen. Sie erkundigte sich nie, was bei Randy los war; sie ging davon aus, dass dort ohnehin nie etwas los sei.
»Einen Film über Paare, die sich entschließen, kinderlos zu bleiben. Mit besonderem Fokus auf Leute so um die Mitte vierzig, die genau an dem Punkt sind, dass sie keine Wahl mehr haben. Ob sie zufrieden sind mit ihrem Leben, ob sie glauben, irgendwas zu verpassen, und was sie davon abgehalten hat, eine Familie zu gründen.«
Wie immer gab Shep sich Mühe, Interesse zu zeigen, aber es fiel ihm schwerer als sonst. »Und, sind die meisten still resignativ, oder bereuen sie’s so richtig?«
»Weder noch, jedenfalls die meisten. Sie sind vollkommen zufrieden!«
Während sie ins Detail ging, dachte Shep darüber nach, dass die Arbeit seiner Schwester von außen inkohärent wirken mochte. Der eine Dokumentarfilm, für den sie bekannt war, wenn sie denn bekannt war, war eine Lobeshymne auf Berlin, New Hampshire – Bör -lin ausgesprochen, eine provinzielle Verballhornung der europäischen Wurzeln, die von einer patriotischen Abspaltung von Deutschland während des Ersten Weltkriegs herrührte und die er immer als eigentümlich liebenswert empfunden hatte. Anhand von Interviews mit den schwindenden Einwohnern, von denen viele in den Papiermühlen gearbeitet hatten, die inzwischen fast alle geschlossen waren, hatte Beryls Film Kampf dem Papier das Archetypische einer untergehenden postindustriellen Kleinstadt in Neuengland eingefangen. Ihr Stil erinnerte an Michael Moore, nur ohne die Häme. Es war ein warmherziger Film, und er hatte ihm gefallen. Er hatte sich aufrichtig für sie gefreut, als sie mit ihrer einstündigen Eloge zum New York Film Festival eingeladen wurde. Außerdem hatte sie eine schrullige Dokumentation über Menschen ohne Geruchssinn gedreht und eine ernstere über Universitätsabsolventen, die sich durch ihre Studienfinanzierung verschuldet hatten.
Ihre Themen wirkten allerdings nur, als wären sie querbeet ausgewählt. Irgendwann ging einem auf, dass Beryls damaliger Freund in jener Gruppe aktiv war, die die Windschutzscheiben der SUVs zerschlug, und dass Beryl einen Groll gegen Autos aller Art hegte, weil sie sich selbst keins leisten konnte. Beryl war Mitte vierzig, und Beryl hatte keine Kinder. Genau wie Shep war Beryl in Ber lin, New Hampshire, aufgewachsen. Beryl war ohne Geruchssinn zur Welt gekommen – was für ein echtes Begreifen ihres Leib- und Magenthemas eher hinderlich war, da Berlin über seine Kindheit und Jugend hinweg gestunken hatte – und Beryl hatte ihren Ausbildungskredit noch immer nicht zurückgezahlt. Das Selbstreferenzielle an der Arbeit seiner Schwester erreichte seinen Kulminationspunkt, als sie letztes Jahr einen Independent-Dokumentarfilm über Independent-Dokumentarfilmer drehte, ein Projekt mit einem deutlich selbstmitleidigen Unterton, in dem fast alle ihre Freunde vorkamen.
Im Allgemeinen war die quirlige, beherzte, durch Inspiration motivierte Zielstrebigkeit ihrer Jugend zu einer verbitterten, betrübten, durch Gehässigkeit motivierten Entschlossenheit gereift. Sie würde es »den Leuten schon noch zeigen«, welchen Leuten auch immer. Wenn Beryl sich mal wieder mit ein paar Cents ein Filmprojekt aus den Rippen leierte, hatte es weniger mit Berufung als mit Gewohnheit zu tun. Inzwischen war Beryl zu
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