Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
alt, um als aufstrebende Filmemacherin zu gelten, hatte sich aber nicht genug etabliert, um etwas anderes zu sein. Doch, doch, die Geruchsdoku hatte sie auf PBS untergebracht, und sie hatte das ein oder andere Stipendium des ein oder anderen Künstlergremiums gewonnen. Doch der Coup mit dem New York Film Festival war Jahre her. Der technische Fortschritt bei den Kompaktkameras, in dessen Folge sie mit minimaler Förderung weiterhin Filme drehen konnte, hatte auch dazu geführt, dass sich alle möglichen anderen Aspiranten die gleiche Kamera kaufen konnten, und die Konkurrenz war größer denn je. Vielleicht dachte Shep da zu konventionell, aber ihr Leben von der Hand in den Mund sah allmählich weniger nach einer begabten Frau aus, die für ihre Arbeit Opfer brachte, als nach Scheitern. Beryl kam in die mittleren Jahre.
»Könntest du dir immer noch vorstellen, bei einer Doku mitzumachen über Leute, die vom Aussteigen träumen?«, fragte sie, als sie auf der West Side Highway im Stau standen. »Ich hab sogar schon überlegt, den Film Der Glaube ans Jenseits zu nennen, oder so was in der Art.«
Er bereute es, dass er sie an seinem Privatjargon hatte teilhaben lassen. »Eigentlich nicht.«
»Du würdest dich wundern. Die Fluchtphantasie ist ziemlich weit verbreitet.«
»Danke.«
»Ich will nur sagen, du bist damit nicht allein. Ihr seid eine Art Klub. Wobei ich mich bisher ein bisschen schwergetan habe, Leute zu finden, die tatsächlich ausgestiegen sind. Bei den zwei Fällen, die ich aufgetrieben habe, sind beide zurückgekommen. Ein Paar ist nach Südamerika gegangen, und die Frau wär’ da fast gestorben; ein anderer Typ hat alles verkauft, was er hatte, und ist auf eine griechische Insel gezogen, wo ihm die Decke auf den Kopf gefallen ist, und er konnte auch kein Griechisch. Sie haben’s beide nur ein Jahr ausgehalten.«
Shep wollte sich auf keinen Fall in eines ihrer Projekte verwickeln lassen. Nachdem Beryl ihr eigenes Leben zum größten Teil ausgeschlachtet hatte, drohte ihre Arbeit nun auf die Verwandtschaft überzuspringen. Gott sei Dank hatte er ihr die bevorstehende Abreise nach Pemba nicht auf die Nase gebunden.
»Aber natürlich sind alle, die du hier antriffst, wieder zurückgekommen«, bemerkte er, »Die Leute, die für immer weg sind, sind nicht mehr hier.« Für ihn selbst war das Jenseits nur noch eine Theorie, doch in diesem quälenden, zäh fließenden Verkehr wollte er das Jenseits zumindest für andere als Möglichkeit beibehalten.
»Und«, sagte sie. »Mal wieder ein paar Brunnen gebaut in letzter Zeit?«
Ein sichereres Thema. Im Gegensatz zu seiner eigenen Familie fand Beryl seine Zimmerspringbrunnen bezaubernd.
BEIM EINBIEGEN IN den Crescent Drive ging Shep auf, dass er seine Schwester auch auf der Fahrt schon hätte einweihen können und dass das vielleicht netter gewesen wäre. Doch er konnte inzwischen nachvollziehen, was Glynis gemeint hatte mit ihrem Satz: »Ich habe mich in letzter Zeit nicht sehr nett gefühlt.« Aus irgendeinem Grund hatte er Lust, Beryl die Sache so schwer wie möglich zu machen.
Seine Frau und seine Schwester begrüßten sich kühl in der Küche. Da die theatralische, mitleidige Umarmung ausblieb, wusste Glynis, dass er im Auto noch nichts von ihrer Diagnose erzählt hatte; ihr Blick bestätigte ihm, dass es ihr recht war. Sie hatten ein Geheimnis, und es war ihre Sache, wann sie es anderen mitteilen würden. Im Verlauf des – vor allem für Beryl – nicht eben gemütlichen Abends begann er zu verstehen, warum seine Frau, die Tests und Termine zunächst für sich behalten hatte. In der vorenthaltenen Information lag eine gewisse Macht. Es war, als würde man mit einer geladenen Waffe durchs Haus laufen.
Glynis hatte umständlich eine Lage Alufolie über die Lasagne gespannt. Shep tadelte sie deswegen und sagte, das Essen sei doch seine Sache. Beryl war zu unaufmerksam, um sich darüber zu wundern, wo doch früher das Kochen immer in den Zuständigkeitsbereich ihrer Schwägerin gefallen war. Ebensowenig schien ihr aufzufallen, wie behutsam er seine Frau zu einem Sessel im Wohnzimmer führte und sie mit einem Drink versorgte. In zwei Wochen würde Glynis keinen Wein mehr trinken können, und er konnte nur hoffen, dass sie daran dachte, ihn jetzt entsprechend zu genießen. Beryl hatte nichts zu trinken mitgebracht. Das hatte sie noch nie getan.
Während sie warteten, bis die Hauptspeise aufgewärmt war, nahm Beryl einen großen Schluck Wein und begann
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