Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
war der schlichte Umstand, nicht willkommen zu sein. Kinder schienen sich nie klarzumachen, dass »ihr« Zimmer ein großzügiges Zugeständnis vonseiten der Eltern war, die für das ganze Haus aufkamen. Es war Sheps gesetzliches, moralisches und finanzielles Recht, dieses Zimmer zu betreten, wann immer er wollte. Dann wiederum war da das vage Bewusstsein, dass Kinder kein eigenes Territorium hatten, was vielleicht den Umstand erklärte, warum sie ihre Illusion vom eigenen Territorium so erbittert verteidigten.
»Ich wollte mal hören, ob du irgendwelche Fragen hast«, sagte Shep. »Wie’s jetzt weitergeht.«
»Wieso weitergeht?« Zach machte nicht den Anschein, als hätte er die geringste Ahnung, worauf sein Vater hinauswollte.
Erst Amelia und dann das. »Mit deiner Mutter «, sagte Shep, als müsste er den Jungen daran erinnern, dass er überhaupt eine Mutter hatte.
»Sie wird operiert. Und dann kommt sie nach Hause und muss Medikamente nehmen und verliert ihre Haare und der ganze Scheiß.« Der Wortlaut des Jungen war krude, aber monoton.
»So in etwa sieht’s aus.«
»Was soll ich denn dann noch für Fragen haben«, sagte Zach, mehr Feststellung als Frage: »Läuft doch eh ständig was drüber im Fernsehen.«
»Aber nicht – über alles«, sagte sein Vater matt. Im Unterhaltungsprogramm diente Krebs meist dazu, dass eine Figur, die ihren Zweck erfüllt hatte, höflich wieder vom Bildschirm verschwinden konnte. Krebs verlieh einer Serie, die Gefahr lief, trivial zu wirken, ein wenig Gehalt. Krebs gab der Handlung einen Dreh, von dem sich die anderen Hauptdarsteller in ein bis zwei Episoden – spätestens innerhalb der Staffel – garantiert wieder erholt hatten.
»Und, was wird weggelassen?«
Die Qualen, wollte er sagen. Zeit, wollte er sagen. Geld, wollte er nicht einmal aussprechen, aber auch das. »Das werden wir wohl auf die harte Tour lernen müssen.«
Der Junge war nicht neugierig. Eigentlich hätte er Fragen stellen müssen. Dabei war es nicht so, als hätte Zach keinen Sinn für das Geheimnisvolle, als sei die Welt für ihn bis in den letzten Winkel erforscht und bekannt. Im Gegenteil, das Zubehör seines Lebens strotzte vor Geheimnissen. Der Computer zum Beispiel. Als Shep fünfzehn war, hatte er seine Hausaufgaben auf einer elektrischen Schreibmaschine getippt. Wie genau es funktionierte, dass sich nach dem Anschlagen einer Taste der Arm eines Buchstabens bewegte, hatte er vielleicht nicht vollständig verstanden. Aber immerhin konnte er sehen, wie der Arm hochging, er konnte das spiegelverkehrte dreidimensionale a auf dem Metall sehen. Er konnte den elementaren Vorgang nachvollziehen, mit dem ein in Tinte getauchtes Schreibband angeschlagen und ein schwarzer Abdruck mit einem a auf einem Blatt Papier hinterlassen wurde. Doch wenn Zach ein a tippte, war es Magie. Sein iPod war Magie. Sein Digitalfernsehen war Magie. Das Internet war Magie. Selbst das Auto seines Vaters, diejenige Maschine, durch die man als Junge zum ersten Mal Herrschaft über die Welt erlangte, unterlag inzwischen der Kontrolle eines Computers. Wenn man einer Fehlfunktion auf die Spur kommen wollte, bedeutete das nicht, dass man ölverschmiert am Motor herumschrauben musste. Nein, das Auto wurde beim Händler erneut an einen Computer angeschlossen. Wenn mit dem technischen Mobiliar in Zachs Leben etwas schiefging – und heutzutage hatten Maschinen ja nicht die Gewohnheit, zu spucken, ein komisches Zischen oder leises Quietschen zu entwickeln; entweder sie funktionierten, oder sie gaben den Geist auf –, käme es ihm nie in den Sinn, sie selbst zu reparieren. Dafür gab es Hexenmeister, wobei der Begriff der Reparatur ja selbst obskur geworden war; viel eher würde man losgehen und sich eine neue Maschine kaufen, die wiederum auf magische Weise funktionierte und dann auf magische Weise wieder nicht. Im Kollektiv gewann der Mensch immer mehr Autorität über die Mechanismen des Universums. Die Einzelerfahrung der meisten Menschen jedoch war die einer wachsenden Macht- und Verständnislosigkeit.
In diesem Moment hatte Shep eine erste Ahnung, warum Zach möglicherweise in ausschließlich temporalem Sinne älter zu werden schien. Nichts, was man dem Jungen in der Schule beigebracht hatte, hatte ihn auch nur mit der geringsten Kompetenz über die Mächte ausgestattet, die sein Leben beherrschten. Algebra im zweiten Highschooljahr informierte ihn nicht einmal ansatzweise darüber, was zu tun war, wenn der Breitbandservice
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