Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
Vom Netzwerk:
nicht ihm passieren würde. Er rückte noch näher an sie heran, da bestimmt auch sie spürte, wie distanziert sie beide waren. Doch als er ihr behutsam die Hand auf den Bauch legte, schob sie sie ebenso behutsam wieder weg.
    Er hatte das Gefühl, die ganze Nacht wach gelegen zu haben, aber da er sich am nächsten Morgen an seinen Traum erinnern konnte, musste er doch geschlafen haben. Er musste das Dach einer Veranda neu decken, und die Besitzer wollten erst die ursprüngliche Bedeckung entfernen lassen. Es war ein hübsches Dach, offenbar von »guter Bausubstanz«. Darunter lagen mehrere Schichten früherer Bedeckungen, und beim Abziehen der Schichten traten unterschiedliche Muster zutage wie auf den Tapeten, die er als Junge an einer aufgerissenen Stelle neben seinem Kinderbett von der Wand geschält hatte. Als er die letzte dünne Schicht hochzog und das helle Holz dieses stabilen Hauses erwartete, war der Raum unter der letzten Dachpappe schwarz und verfault. Das Holz war von Schimmel befallen. Käfer und Raupen huschten zurück ins Dunkel. Das Gerippe war feucht und zerfiel unter seiner Berührung. Obwohl es von außen solide gewirkt hatte, war das Dach seit Jahren leck. Während er dastand und nach seinen Bauleuten rief, gaben die Balken nach. Alles brach unter ihm zusammen.
    DA GLYNIS KEINEN Kaffee trinken durfte, verzichtete auch er darauf, und so waren sie viel zu früh abreisefertig. Er fragte sich, ob er den Kaffee an anderen Tagen eigentlich um des Getränks willen gekocht hatte oder nur, um am Morgen etwas zu tun zu haben.
    Es war noch so früh, dass in Richtung Nord-Manhattan wenig Verkehr herrschte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Autofahrten im morgendlichen Dunkel brachte Shep mit Aufregung in Verbindung, einem Flug nach Indien, für den man drei Stunden vorher einchecken musste. Auch jetzt war er aufgeregt, aber es war eine Aufregung, die ihn an Feueralarm, Schneesturm und den elften September erinnerte.
    »Das hört sich jetzt wahrscheinlich verrückt an«, begann Glynis; er war dankbar, dass sie redete. »Aber wovor ich am meisten Angst habe, sind die Spritzen.«
    Glynis hatte schon ihr Leben lang eine Aversion gegen Spritzen. Wie so viele Aversionen war auch diese dadurch schlimmer geworden, dass sie sich nicht mit ihr auseinandergesetzt hatte. Wenn sie einen Film sahen, in dem sich ein Heroinsüchtiger einen Schuss setzte, wandte sie den Kopf ab, und er musste ihr sagen, wann sie wieder hinschauen konnte. Wenn es in den Nachrichten um neue Medikamente oder Schutzimpfungen ging, verließ sie den Raum. Sie schämte sich zwar dafür, konnte sich aber nie dazu durchringen, Blut zu spenden. Die Fernreisen in Länder, für die sie Choleraimpfungen oder Typhusnachimpfungen brauchten, waren immer ein Drama gewesen. Erst nach Jahren hatte er die Größe ihrer Geste erkannt und wie entschlossen sie tatsächlich war, sich auf seinen Traum einzulassen, indem sie sich seinetwegen einer Injektionsnadel aussetzte.
    »Das hab ich mir gedacht«, sagte er. »Das Kontrastmittel für die Tomografien … Wie hast du das hinbekommen?«
    »Nur unter größten Mühen. Vor meinem MRI bin ich fast in Ohnmacht gefallen.«
    »Aber es gab doch bestimmt auch Blutabnahmen …«
    »Stimmt.« Ihr schauderte. »Und es kommen garantiert noch mehr. Bei der Chemo … sitzt man stundenlang da und hat eine Spritze im Arm. Ich darf gar nicht dran denken.«
    »Aber du bist doch sonst so stoisch! Weißt du noch, damals, als du dir im Atelier in den Mittelfinger geschnitten hast?«
    »Als könnte ich das vergessen. Das war damals, als ich diesen Fräser benutzt habe, der ja schon aussieht wie eine Minikreissäge. Er hatte sich im Silber verfangen und ist mir ausgerutscht. Ich hatte Glück, dass ich mir nicht den halben Finger abgeschnitten habe. Die Fingerspitze ist heute noch taub.«
    »Ja, aber du bist völlig ungerührt die Treppe runtergekommen und hast mit leiser Stimme verkündet: Shepherd, allem Anschein nach muss ich ins Krankenhaus, möglicherweise muss ich genäht werden, und ich denke, es wäre keine gute Idee, einhändig zu fahren. So oder so ähnlich jedenfalls. Es klang, als wolltest du mich mal eben zum Supermarkt schicken, weil wir keine Nelken mehr im Haus haben. Deswegen habe ich erst gar nicht gemerkt, dass der Lappen, den du dir um die linke Hand gewickelt hattest, komplett blutverschmiert war. Wirklich beinhart!«
    Sie lachte leise in sich hinein. »Ich wette, wenn du genauer hingeschaut hättest, wäre dir

Weitere Kostenlose Bücher