Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
zu sinken begannen und dumpf auf dem Grund aufschlugen. Der Junge wirkte nicht schockiert. Sein Vater fragte sich, in was für einer furchtbaren Welt Zach sich aufhielt, wo selbst Informationen wie diese normal oder gar vorauszusehen waren.
Zumindest würden die beiden von nun an in ein und demselben Universum leben. Es war ein Universum, das aus den Fugen geraten war. Eine Aufgabe, die Kinder erfüllen und die Shep bislang nicht zu würdigen gewusst hatte: Wenn der Ehefrau etwas Schreckliches widerfährt, widerfährt auch ihnen etwas Schreckliches. Man teilt das Schreckliche, das für den unbeteiligten Beobachter lediglich nach Pech aussieht. Dieses Ledigliche, das er manchmal bei anderen wahrnahm, war unerträglich geworden, weswegen er bis heute im Büro jedes Gespräch über Glynis’ Krankheit vermieden hatte.
Unerhörterweise aßen sie zusammen. Zach bot seinem Vater an, zusammen fernzusehen, was noch viel unerhörter war. Shep entschuldigte sich, aber er müsse ein paar Telefonate führen. Beim gemeinsamen Geschirrspülen freute er sich, dass trotz seiner gutmütigen Erlaubnis sein Sohn den Springbrunnen über der Spüle nicht abschalten wollte.
Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Er stellte auf dem Computer eine Liste der zu benachrichtigenden Personen zusammen. Die Liste würde er noch brauchen, für andere Wendepunkte, andere Mitteilungen, und er wollte sich nicht eingestehen, gestand sich dann aber doch ein, für welche Mitteilung die Liste am Ende gut wäre. Er schrieb aus dem Adressbuch seiner Frau Handynummern und Festnetznummern ab. Er trennte die Kontakte in »Familie«, »enge Freunde« und »weniger enge Freunde«, und während er diesen und jenen in letztere Kategorie einordnete, dachte er, wie gekränkt einige dieser Leute durch die Zuordnung wären. Er war geneigt, unter »enge Freunde« nur diejenigen Weggefährten zu verbuchen, die am Samstag daran gedacht hatten, anzurufen und alles Gute zu wünschen.
Er ging bei der Auswahl systematisch vor. Zum schwersten Anruf zwang er sich zuerst: Amelia. Er war zögerlich, wenig prägnant, und immer wieder fiel sie ihm ins Wort: »Aber es ist doch alles okay mit ihr, oder? Sie hat’s doch gut überstanden, oder?« Er telefonierte länger, als er eigentlich vorgehabt hatte, er wollte sichergehen, dass sie wirklich verstanden hatte, bis ihm schließlich aufging, dass sie von Anfang an allzu gut verstanden hatte und nur darauf wartete, etwas anderes zu hören. Seine Tochter zum Auflegen zu bewegen war eine ähnliche Tortur wie das Zubettbringen früher, als sie noch ein Kind gewesen war und sich um seine Wade klammerte und er ihre kleinen Finger regelrecht von seinem Hosenbein hatte losreißen müssen.
Aber bald schon ging ihm die Bekanntgabe der Einzelheiten leichter von den Lippen: »… ›biphasisch‹, das heißt, weniger aggressive epitheloide Zellen sind vermischt mit den eher …« Seine Stimme war ruhig. Wenn der gemessene Tonfall als Mangel an echtem Gefühl fehlinterpretiert wurde, war es ihm egal. Drängte man ihn nach einer Prognose, verlegte er sich auf den Ausdruck »ein weniger optimistisches Resultat«, in dem immerhin noch das Wort optimistisch vorkam. Alle hatten Internet; wenn sie es denn wirklich wissen wollten, konnten sie denn nachsehen. Das gehörte jetzt zu seinen Aufgaben: Informationen verteilen, Besuche orchestrieren, Glynis vor Besuchen schützen. Ab jetzt würde er nebenberuflich als Eventmanager und Firmenleiter in Personalunion fungieren. Er stellte fest, dass er denjenigen instinktiv misstraute, die sich in Mitleid ergingen und anboten, dass sie »irgendwie« helfen könnten. Seiner Erfahrung nach waren Leute, die ihre Gefühle am besten zu artikulieren wussten, am wenigsten dazu geneigt, sie auch in einer anderen Form als in Worten auszudrücken. Beryl zum Beispiel war besonders eloquent und setzte zu übertriebenen und unglaubwürdigen Reminiszenzen an über die großartigen Zeiten mit den beiden. Sie besang den Charakter derjenigen Frau, die ihr so unsympathisch war. Vor lauter Verlegenheit hatte er ihr schließlich das Wort abgeschnitten und erklärt, dass er noch einige Telefonate zu führen habe. Sein Vater sagte nur, er wolle »für die ganze Familie beten«. Während Shep oft wenig Geduld hatte mit abgedroschenen christlichen Phrasen, bewunderte er diesmal die Religion, die ein Idiom für gute Wünsche lieferte und dabei sowohl aufrichtig klang als auch kurz und bündig war.
Die Grenzen des Verbalen
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