Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
war es nicht böse gemeint. Trotz der abwertenden Dinge, die man sich über Ärzte erzählte, wirkte dieser hier sympathisch und anständig.
»Bitte«, sagte Glynis, nachdem sich Dr. Hartness verabschiedet hatte. »Wartest du noch, bis ich das Beruhigungsmittel bekommen habe?«
»Natürlich«, sagte er und drehte ihren Kopf weg. »Guck nicht hin. Denk gar nicht drüber nach. Sieh mich an. Sieh mir einfach ganz, ganz tief in die Augen.«
Shep ließ eine Hand auf ihrer Wange ruhen und hielt ihrem Blick stand, wobei er sich alle Mühe geben musste, nicht selbst zu der Anästhesistin hinzuschauen, während sie die Spritze vorbereitete. Und dann sagte er seiner Frau, dass er sie liebe. Die Wirkung der Spritze setzte fast augenblicklich ein, und es sollten die letzten Worte sein, die sie mitbekam.
Er hatte dem gewöhnlichen Satz so viel Gefühl eingehaucht, wie das bei drei Wörtern überhaupt möglich war. Und doch wünschte er, dass die Verwendung dieser Formel qua Konvention eingeschränkt wäre. Eheleute warfen sie sich allzu oft hastig und gedankenlos zum Abschied zu, oder sie wurde leichthin ausgesprochen, um ein alltägliches Telefonat abzuwickeln. Ihm wäre ein Gesetz lieb gewesen, das ein so radikales Bekenntnis auf, sagen wir, drei Mal im Leben beschränkte. Rationierung würde die Aussage vor Entwertung schützen und dafür sorgen, dass sie heilig blieb. Denn hätte er den Satz »Ich liebe dich« wie drei Wünsche zugeteilt bekommen, hätte er einen davon heute morgen ausgesprochen.
Nachdem er auf der Schwesternstation seine Handynummer hinterlassen hatte, trat Shep aus der Lobby auf den Broadway und blinzelte in das gleißend weiße Wintersonnenlicht. Er hatte keinen Gedanken daran verschwendet, wie er den Rest des Tages verbringen würde, abgesehen von der vagen Ambition, sich irgendwo eine Kaffee zu holen. Glynis würde nicht sofort in den OP kommen; nachdem das Beruhigungsmittel wirkte, musste sie unter Vollnarkose gesetzt werden, und dann würde man mindestens vier Stunden operieren. Anschließend würde sie mindestens einen Tag vom Morphium k.o. sein. Wieder sehnte er sich nach einem Verhaltenskodex. Worin lag der Nutzen einer Zivilisation, die nach strenger Etikette im Dezember Grußkarten versandte und die Gabel links neben den Teller legte, aber wenn die eigene Ehefrau unters Messer kam, war jeder auf sich gestellt.
Schon nach einem einzigen café con leche in Washington Heights ging ihm auf, dass es doch ein vorgeschriebenes Verhalten gab. Es war herrlich spezifisch und so eisern, dass man es in die Verfassung hätte meißeln können: Was tat derjenige, der in Amerika einen Job mit Krankenversicherung hatte, wenn die Ehefrau desjenigen schwer krank war? Wenn er häufig von dieser Anstellung ferngeblieben war und wahrscheinlich noch viele weitere Tage fehlen würde? Wenn er ein Arschloch zum Chef hatte? Und wenn sich dann die Ehefrau unters Messer legen musste, und auch sonst zu jeder Gelegenheit?
Er ging zur Arbeit.
JACKSON WIRKTE ÜBERRASCHT , ihn zu sehen, aber nur für einen kurzen Moment; auch Jackson kannte sich in der ungeschriebenen Verfassung gut aus. Innerhalb weniger Minuten nach Sheps Eintreffen kam Mark, der Webdesigner, der Pemba besonders sarkastisch aufgenommen hatte, zu ihm an den Schreibtisch und drückte ihm die Schulter: »Ich denk heut an euch beide, Mann.« Andere Mitarbeiter lächelten aufmunternd, vor allem diejenigen, die schon bei Allrounder dabei gewesen waren – die wenigen, die noch übrig blieben. Selbst Pogatchnik legte eine ungewohnte Sensibilität an den Tag, indem er sich immerhin rar machte. Also hatte Jackson die Belegschaft eingeweiht. Shep hätte es als Affront werten können – sein Kumpel war zu weit gegangen, Jackson hätte wissen müssen, dass sein Freund seine Privatangelegenheiten auf gar keinen Fall nach außen tragen wollte –, er stellte aber stattdessen fest, dass er dankbar war. Er fühlte sich nackt, ungeschützt, sein Inneres war an der Luft, als ob er keine Haut hätte. Aber Jackson hatte es gut gemeint, den Leuten Bescheid zu sagen. Und genauso würde Shep die Aktion auch auffassen.
Am Telefon mit den verärgerten Kunden hätte Shep wütend sein können, hätte sich über die Banalität jeder Klage ärgern können. Doch im Gegenteil, jede schlecht geklebte Linoleumfliese schien eine Rolle zu spielen, alles schien eine Rolle zu spielen. Er war an diesem Morgen dankbar für den kleinsten Akt der Rücksichtnahme vonseiten eines wildfremden
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