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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Menschen: wie eine Schwester seiner Frau einen Eiswürfel an die aufgesprungene Lippe gehalten hatte. Rücksicht auf wildfremde Menschen schien der passende Ausgleich zu sein. Er ließ die Klagenden reden, zeigte sich betrübt, dass die Kollegen nicht die erwartete Leistung gebracht hatten, und versprach, sich des Problems umgehend anzunehmen. Als eine Frau aus Jackson Heights gegen Randys mexikanische Mitarbeiter wetterte und unterstellte, dass es sich um illegale Arbeiter handelte – womit sie, ehrlich gesagt, wahrscheinlich nicht unrecht hatte –, griff er sie nicht wegen ihrer Engstirnigkeit an, sondern erklärte ihr geduldig, dass die hispanischen Handwerker fleißig und kompetent seien, allein ihr Englisch sei mitunter ein wenig dürftig. Sie verstünden nicht immer, was genau zu tun sei. Er werde dafür sorgen, dass ein Muttersprachler vorbeigeschickt würde, um den Rahmen zu reparieren, bis die Verandatür mit einem anmutigen Klick schließen werde.
    Einsam, wie er war, war er froh über die Gesellschaft der Kunden, den Kontakt, die menschlichen Stimmen. Kundenbetreuung als Videospiel: Fokus auf alles, nur nicht auf die Columbia-Presbyterian. Er war sich bewusst, dass er großen Einfluss auf einige Minuten im Leben dieser Kunden hatte – Leben, die sich aus Momenten zusammensetzten und nur aus Momenten. Im Alleingang war er in der Lage, vielleicht fünf Minuten ihres Tages zu retten. Und das war doch schon etwas.
    Er arbeitete die Mittagspause durch und rief um zwei Uhr nachmittags im Krankenhaus an. Sie war noch immer im OP. Er rief um drei an. Sie war noch immer im OP. Genauso um vier. Er sagte sich, es sei gut, dass die Ärzte so gründlich waren. Dennoch war es eine sehr lange Zeit, um mit geöffnetem Körper dazuliegen, mit demjenigen Teil seines Körpers, über den man nie nachdachte, über den man nicht nachdenken wollte, den man in seiner Glückseligkeit für selbstverständlich hielt. Inzwischen gelang es nicht mal mehr den Kunden, ihn mit ihren Beschwerden abzulenken, und mehr als einmal musste er einen Hauseigentümer bitten, das Problem, die Anschrift, das Datum der Reparatur zu wiederholen.
    Da Glynis fast doppelt so lange operiert wurde wie vorgesehen, konnte Shep einen vollen Arbeitstag einlegen – was bei der dünnen Rettungslinie zu seiner Versicherung wichtig war, auch wenn es nicht wichtig hätte sein dürfen. Als er endlich Dr. Hartness am Telefon hatte, war es fast sechs. Jackson hielt sich in der Nähe von Sheps Schreibtisch auf und hörte offensichtlich mit.
    »Na ja, das ist ja schon mal was … verstehe. Und was ist das genau? … Und das bedeutet? … Nein, mir wär’s lieber, wenn Sie ehrlich sind … Hätte es denn irgendeinen Sinn, heute Abend noch …? Nein, das mach ich schon selbst. Besser, wenn ich es ihr sage … Dr. Hartness? Sie haben sehr hart gearbeitet und sehr lang. Sie sind bestimmt erschöpft. Danke, dass Sie sich solche Mühe gegeben haben, meiner Frau das Leben zu retten.«
    Als Shep den Hörer auflegte, sah er an Jacksons entsetztem Gesicht, dass sein letzter Satz leicht fehlinterpretiert werden konnte. »Ihre Vitalparameter sind gut, sie schläft jetzt«, beruhigte Shep seinen Freund. »Aber …« Er musste daran denken, wie Glynis mit der Hand in diesem bluttriefenden Lappen die Treppe runtergekommen war, und an ihren ruhigen Ton. Auch jetzt war Sachlichkeit gefragt.
    »Es war schlimmer, als sie erwartet haben. Sie haben eine sogenannte ›biphasische Stelle‹ gefunden. Epitheloide Zellen, aber vermischt mit sarkomatoiden. Wie marmorierte Eiscreme, hat er gesagt. Bei der Biopsie war das übersehen worden. Die sarkomatoiden Zellen sind verdammt übel, und anscheinend bringt einen die reine Chemo da nicht weiter. Sie haben alles erwischt, was sie erwischen konnten, was aber nicht heißt, dass sie alles erwischt haben und dann haben sie sie wieder zugenäht.«
    »Das ist aber – schlimm«, murmelte Jackson.
    »Ja, das ist schlimm.«
    SHEP SOLLTE AN jenem Abend noch jede Menge Übung darin bekommen, diese Zusammenfassung zu wiederholen. Er fuhr nach Hause und sprach zuerst mit seinem Sohn. Zach hatte nur eine Frage. »Kommt drauf an, wie sie auf die Chemo reagiert«, sagte sein Vater ausweichend. Davon wollte Zach nichts hören. Er wollte eine Zahl hören. Wenn der Junge es also genau wissen wollte, bitte schön. Er nahm die Information auf wie ein Tümpel einen Stein: es machte leise Blubb , und Shep sah, wie seine Worte aus dem Blick verschwanden,

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